Trouble - Ein Jack-Reacher-Roman
einmal gelogen. Allerdings erst nach der Entführung, den Misshandlungen, dem Hunger und Durst, dem Hubschrauberflug und dem zwanzig Sekunden dauernden langen freien Fall.
»Warum ist das passiert?«, fragte Tammy.
»Das versuchen wir herauszubekommen.«
»Das sollten Sie auch. Das ist das Mindeste, was Sie tun können.«
»Deswegen sind wir hier.«
»Aber hier gibt’s keine Antworten.«
»Es muss welche geben. Angefangen mit dem Klienten.«
Tammys rot geweinte Augen blickten verständnislos zu Milena.
»Klient?«, fragte sie dann. »Sie wissen noch nicht, wer’s war?«
»Nein«, sagte Reacher. »Sonst wären wir nicht hier, um Fragen zu stellen.«
»Sie hatten keine Klienten«, sagte Milena stellvertretend für Tammy. »Schon lange nicht mehr. Das habe ich Ihnen bereits erklärt.«
»Diese Sache hat mit irgendetwas angefangen«, beharrte Reacher. »Jemand ist in ihrem Büro oder in einem der Kasinos mit einem Problem zu ihnen gekommen. Wir müssen herausfinden, wer das war.«
»Das ist nicht passiert«, sagte Tammy.
»Dann sind sie wahrscheinlich selbst über das Problem gestolpert. In diesem Fall müssen wir wissen, wo, wann und wie.«
Nun folgte langes Schweigen, bis Tammy es unterbrach: »Sie verstehen wirklich nichts, was? Diese Sache hatte nichts mit ihnen zu tun. Überhaupt nichts. Sie hatte auch nichts mit Vegas zu tun.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Wie hat sie also angefangen?«
»Mit einem Hilferuf«, antwortete Tammy. »So hat sie angefangen. Mit einem Anruf, der plötzlich aus heiterem Himmel gekommen ist. Von einem eurer Leute in Kalifornien. Von einem eurer geschätzten alten Kameraden aus der Army.«
51
Azhari Mahmoud warf Andrew McBrides Reisepass auf der Fahrt zu dem Lastwagenverleih U-Haul in einen Müllbehälter und verwandelte sich in Anthony Matthews. Er hatte einen Packen gültiger Kreditkarten und einen auf diesen Namen ausgestellten Führerschein in der Tasche. Die Adresse auf dem Führerschein hätte jeder Überprüfung standgehalten. Sie bezeichnete ein reales Gebäude, ein bewohntes Haus, nicht nur einen Briefkasten oder ein unbebautes Grundstück. Die Rechnungsanschrift für Kreditkartenbelastungen war damit identisch. Im Lauf der Jahre hatte Mahmoud viel dazugelernt.
Er hatte beschlossen, einen mittelgroßen Lastwagen zu mieten. Im Allgemeinen bevorzugte er in allem den Mittelweg, die mittlere Ausführung. Sie war weniger auffällig. Angestellte erinnerten sich an Leute, die etwas in größter oder kleinster Ausführung verlangt hatten, und ein mittelgroßer Lastwagen reichte für seine Zwecke aus. Seine mathematischen Fähigkeiten waren bescheiden, aber für einfache Rechnungen genügten sie. Er wusste, dass der Rauminhalt sich aus Länge mal Breite mal Höhe ergab. Somit ließen sich sechshundertfünfzig Kartons dreizehn lang, zehn breit und fünf hoch aufstapeln. Anfangs hatte er geglaubt, zehn Kartons seien für jeden Lastwagen zu breit, aber dann war ihm klar geworden, dass er die Breite verringern konnte, indem er die Schmalseiten aneinanderstellte. So würde es klappen.
Tatsächlich wusste er, dass alles klappen würde, weil er die am Flughafen gewonnenen hundert Quarter noch in der Tasche hatte.
Sie sprachen Tammy Orozco ihr Beileid aus, gaben ihr Curtis Mauneys Namen und ließen sie allein auf ihrem Sofa zurück. Dann begleiteten sie Milena zu der Bar, ihrer Arbeitsstelle, zurück. Sie musste sich ihren Lebensunterhalt verdienen und hatte an diesem Tag schon drei Stunden gefehlt. Sie sagte, sie könne entlassen werden, wenn sie den Ansturm zur Happy Hour am Spätnachmittag verpasse. Auf dem Strip herrschte um diese Zeit etwas mehr Leben. Aber die Großbaustelle schien weiterhin verwaist. Dort gab es keinerlei Aktivitäten. Die Schlammspur im Rinnstein war endlich getrocknet. Die Sonne brannte zwar nicht herab, aber der Tag war trotzdem warm. Reacher begann darüber nachzudenken, wie tief der Kerl wirklich vergraben war. Auch über Verwesung, Gase, Gerüche und neugierige Tiere.
»Gibt’s hier Kojoten?«, fragte er.
»In der Stadt?«, sagte Milena. »Ich habe noch nie einen gesehen.«
»Okay.«
»Warum?«
»Nur so aus Interesse.«
Sie gingen weiter. Nahmen dieselbe Abkürzung wie zuvor und erreichten die Bar wenige Minuten nach fünfzehn Uhr.
»Tammy ist zornig«, sagte Milena. »Das tut mir leid.«
»Es war zu erwarten«, meinte Reacher.
»Sie befand sich in der Wohnung, als die Mistkerle die Wohnung durchsuchen wollten. Schlafend im Bett.
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