Trügerische Ruhe
finsteren und frostigen Nacht.
Die Tür wurde geöffnet, und Richterin Iris Keating sagte: »Danke, daß Sie gekommen sind, Lincoln.«
Er trat ein. Die Luft im Inneren des Hauses war stickig. »Sie sagten, es sei dringend.«
»Haben Sie schon mit dem Stadtrat gesprochen?«
»Ja, gerade vorhin.«
»Und er hat keinerlei Absichten, den See zu sperren, oder?«
Er sah sie an und lächelte resigniert. »Gab es da irgendwelche Zweifel?«
»Ich kenne diese Stadt nur zu gut. Ich weiß, wie die Leute denken und wovor sie Angst haben. Wie weit sie gehen würden, um ihre Familien zu schützen.«
»Dann wissen Sie ja, womit ich es zu tun habe.«
Sie wies auf die Tür zur Bibliothek. »Setzen wir uns doch, Lincoln. Ich muß Ihnen etwas sagen.«
Ein erlöschendes Feuer brannte im Kamin; nur ein paar kraftlose Flämmchen flackerten noch aus dem Aschenhaufen empor. Trotzdem wirkte der Raum überheizt, und während Lincoln tief in einem weichen Polstersessel versank, fragte er sich, ob er wohl die Kraft haben würde, wach zu bleiben. Wieder aufzustehen und nach draußen in die Kälte zu gehen. Iris saß ihm gegenüber; nur der schwache Schein des Feuers fiel auf ihr Gesicht. Das Halbdunkel schmeichelte ihren Zügen, ließ ihre Augen dunkler wirken, glättete die Falten ihrer Sechsundsechzig Jahre zu sanften Schatten. Nur ihre Hände, dürr und knotig von Arthritis, verrieten ihr Alter.
»Ich hätte heute abend in der Versammlung etwas sagen sollen, aber ich hatte nicht den Mut«, gestand sie.
»Den Mut, was zu sagen?«
»Als Claire Elliot über den See sprach – über den Abend, als sie das Leuchten auf dem Wasser gesehen hat –, hätte ich mich ihr anschließen sollen.«
Lincoln beugte sich vor, als die Bedeutung ihrer Worte endlich den Kokon seiner Müdigkeit zerriß. »Sie haben es auch gesehen.«
»Ja.«
»Wann?«
Sie sah auf ihre Hände hinab, die die Armlehnen umklammert hielten. »Es war im Spätsommer. Ich war vierzehn Jahre alt, und wir hatten ein Haus in der Nähe der Boulders. Es ist nicht mehr da; es ist schon vor Jahren abgerissen worden.« Ihr Blick wanderte zum Feuer und verharrte wie gebannt auf den zischenden Flammen. Sie lehnte sich zurück; ihr Haar leuchtete silbrig vor dem dunklen Bezug des Sessels. »Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern. Es regnete in Strömen. Ich wachte auf und hörte Donnergrollen. Ich ging ans Fenster, und da sah ich etwas auf dem See. Ein Leuchten. Einen Schimmer. Es war nur ein paar Minuten lang zu sehen, und dann ...« Sie schwieg einen Moment. »Bis ich meine Eltern geweckt hatte, war es schon verschwunden, und das Wasser war wieder dunkel.« Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich haben sie mir nicht geglaubt.«
»Haben Sie das Leuchten irgendwann noch einmal gesehen?«
»Einmal. Einige Wochen später, während eines Wolkenbruchs. Es schimmerte nur ganz kurz auf, und dann war nichts mehr zu sehen.«
»An dem Abend, als Claire und ich es sahen, hat es auch heftig geregnet.«
Sie hob den Blick und sah Lincoln an. »All die Jahre habe ich geglaubt, es sei der Blitz gewesen. Oder vielleicht eine optische Täuschung. Und heute abend erfahre ich zum ersten Mal, daß ich nicht die einzige bin, die es gesehen hat.«
»Warum haben Sie nichts gesagt? Ihnen hätte die Stadt doch zugehört.«
»Und die Leute hätten alle möglichen Fragen gestellt. Wann ich es gesehen habe, in welchem Jahr es war.«
»In welchem Jahr war es, Richterin Keating?«
Sie wandte den Blick ab, doch er sah die Tränen in ihren Augen aufblitzen. »Neunzehnhundertsechsundvierzig«, flüsterte sie. »Es war im Sommer neunzehnhundertsechsundvierzig.«
Das Jahr, in dem Iris Keatings Eltern von Iris’ fünfzehnjährigem Bruder getötet worden waren. Das Jahr, in dem auch Iris getötet hatte, allerdings in Notwehr. Sie hatte ihren Bruder aus dem Turmfenster gestoßen und zugesehen, wie er in den Tod gestürzt war.
»Sie verstehen jetzt, warum ich nichts gesagt habe.«
»Sie hätten etwas bewirken können.«
»Niemand will etwas davon wissen. Und ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Es ist so lange her. Zweiundfünfzig Jahre –«
»Zweiundfünfzig Jahre sind gar nichts! Sehen Sie sich doch an, wie man Warren Emerson heute noch behandelt. Ich bin genauso daran schuld. Als Kinder standen wir einander so nahe. Ich dachte immer, daß wir eines Tages ...« Sie brach plötzlich ab. Ihr Blick fiel wieder auf das Feuer, das inzwischen kaum mehr als ein Häufchen glühender Asche war. »Die
Weitere Kostenlose Bücher