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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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dazugehöre. Daß ich nie dazugehören werde.« Sie atmete tief aus, und plötzlich war ihr Zorn verschwunden; nur ein Gefühl von Mattheit blieb zurück. »Ich weiß nicht, wieso ich geglaubt habe, das würde funktionieren. Noah wollte nicht hierherziehen, aber ich habe ihn dazu gezwungen. Und jetzt erkenne ich, wie dumm das von mir war ...«
    »Warum sind Sie hergekommen, Claire?« Er hatte die Frage so leise gestellt, daß sie fast im Rauschen des Gebläses untergegangen wäre.
    Es war eine Frage, die er ihr noch nie gestellt hatte; eine wesentliche Information über sie selbst, die sie immer für sich behalten hatte. Warum ich nach Tranquility gekommen bin. Und während er jetzt auf ihre Antwort wartete, breitete sich das Schweigen zwischen ihnen aus und ließ ihren Widerwillen, sich ihm anzuvertrauen, um so deutlicher hervortreten.
    Er spürte ihr Unbehagen und wandte den Blick der Straße draußen zu, wie um ihr mehr Raum für ihre eigenen Gedanken zu geben. Als er wieder zu sprechen begann, war es, als seien seine Worte eigentlich nicht an sie gerichtet, als denke er einfach nur laut vor sich hin.
    »Die Leute, die von auswärts hierherkommen«, sagte er, »bei denen habe ich fast immer den Eindruck, als ob sie vor etwas davonlaufen. Einem Job, den sie hassen, einem Exmann oder einer Exfrau. Vor irgendeiner Tragödie, die ihr Leben erschüttert hat.«
    Sie ließ sich zur Seite sacken und spürte die eisige Fensterscheibe an ihrer Wange. Woher weiß er das? fragte sie sich. Wieviel hat er erraten?
    »Sie kommen hierher, diese Leute von außerhalb, und sie glauben, sie haben das Paradies gefunden. Vielleicht machen sie gerade Sommerferien. Vielleicht sind sie nur auf der Durchreise, und der Name der Stadt gefällt ihnen. Es klingt nach Sicherheit, nach einem Zufluchtsort, einem Ort, wo man sich verstecken kann. Sie schauen beim Immobilienmakler vorbei und sehen sich die Fotos an der Wand an. All die Bauernhäuser, die zum Verkauf stehen, die Bungalows am See.«
    Es war ein Bild von einem Bauernhaus mit blühenden Narzissen im Vorgarten und einem Ahorn, der gerade die ersten Frühlingstriebe zeigte. Ich habe nie ein Haus mit einem Ahorn gehabt. Ich habe nie in einer Stadt gelebt, wo ich nachts zum Himmel aufblicken und die Sterne sehen konnte – und nicht den Widerschein der Großstadtlichter.
    »Sie fragen sich, wie es wohl wäre, in einer Kleinstadt zu leben«, sagte Lincoln. »In einem Ort, wo niemand die Haustür abschließt und wo die Nachbarn einem zur Begrüßung einen Topf Ragout vorbeibringen. Ein Ort, der mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit existiert, weil es die Kleinstadt, die sie sich vorstellen, gar nicht gibt. Und die Probleme, die sie hinter sich lassen wollen, folgen ihnen einfach nach, wenn sie umziehen. Und wenn sie wieder ausziehen.«
    Noah hat mir gesagt, er wolle nicht mitkommen. Er hat mir gesagt, er würde mich hassen, wenn ich ihn dazu zwingen würde, aus Baltimore fortzugehen, all seine Freunde zurückzulassen. Aber man kann nicht zulassen, daß ein Vierzehnjähriger bestimmt, wie man sein Leben zu leben hat. Ich bin die Mutter. Ich habe die Verantwortung. Ich wußte, was gut für ihn war, gut für uns beide.
    Ich glaubte es zu wissen.
    »Für eine Weile scheint es vielleicht zu funktionieren«, sagte er. »Ein neues Haus, eine neue Stadt – das alles lenkt einen ab von den Dingen, vor denen man davongelaufen ist. Jeder hofft auf einen Neubeginn, auf eine Chance, alles in Ordnung zu bringen. Und man denkt, welche Zeit und welcher Ort wäre besser geeignet, um ein neues Leben zu beginnen, als ein Sommer am See?«
    »Er hat ein Auto gestohlen«, sagte sie. Er antwortete nicht. Sie fragte sich, was sie wohl in seinen Augen sehen würde, wenn sie sich jetzt umdrehte und ihn ansähe. Sicherlich nicht Überraschung; irgendwie hatte er bereits gewußt oder erraten, daß ihr Umzug nach Tranquility ein Akt der Verzweiflung gewesen war.
    »Es war natürlich nicht die einzige Straftat, die er begangen hatte. Nachdem er verhaftet worden war, habe ich von all den anderen Dingen erfahren, die er angestellt hatte. Von den Ladendiebstählen, den Graffiti, den Einbrüchen im Lebensmittelladen. Sie haben es gemeinsam getan, Noah und seine Freunde. Drei Jungs, die sich einfach langweilten und beschlossen, etwas mehr Aufregung in ihr Leben zu bringen. In das Leben ihrer Eltern.« Sie lehnte sich zurück, den Blick auf die leere Straße gerichtet. Es begann wieder zu schneien, und die Flocken,

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