Trügerische Ruhe
ganzen Jahre über habe ich ihn gemieden. Ich habe so getan, als ob er nicht existierte. Und jetzt höre ich, daß es vielleicht gar nicht seine Schuld war, sondern nur eine Krankheit. Eine Gehirnentzündung. Und jetzt ist es zu spät für eine Wiedergutmachung.«
»Es ist nicht zu spät. Warren ist letzte Woche operiert worden, und es geht ihm jetzt gut. Sie könnten ihn besuchen.«
»Ich weiß nicht, was ich nach all diesen Jahren sagen sollte. Ich bin nicht sicher, ob er mich überhaupt würde sehen wollen.«
»Überlassen wir Warren diese Entscheidung.«
Sie dachte darüber nach. Ihre Augen glitzerten im schwächer werdenden Schein der Glut. Dann erhob sie sich steif aus ihrem Sessel. »Ich glaube, das Feuer ist ausgegangen«, sagte sie. Und sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer.
Ein Auto stand in Lincolns Einfahrt.
Er stöhnte, als er es sah, und parkte seinen Wagen dahinter. Obwohl er den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen war, brannte das Licht in seinem Wohnzimmer, und er wußte, was ihn im Haus erwartete. Nicht schon wieder, dachte er. Nicht heute nacht.
Er stieg langsam die Stufen zu seiner Veranda empor und fand die Haustür unverschlossen. Wann hatte Doreen seinen neuen Schlüssel gestohlen?
Er fand sie schlafend auf der Couch. Der säuerliche Geruch von Alkohol erfüllte den Raum. Wenn er sie jetzt weckte, würde es eine weitere Szene geben, mit Tränen und Geschrei, mit Nachbarn, die sich wegen der nächtlichen Ruhestörung beklagten. Besser, er ließ sie ihren Rausch ausschlafen und kümmerte sich am Morgen darum, wenn sie nüchtern war und er nicht vor Erschöpfung umzufallen drohte. Er stand da und sah auf sie hinab, betrachtete mit einem Gefühl von Trauer und Verwirrung die Frau, die er geheiratet hatte. Ihr rotes Haar war verfilzt, graue Strähnen zeigten sich darin. Ihr Mund stand offen, und ihr Schlaf war ein geräuschvoller Rhythmus aus Pfeifen und Röcheln. Und doch empfand er keinen Abscheu, als er sie so ansah, sondern vielmehr Mitleid – und ungläubiges Staunen darüber, daß er sie jemals geliebt hatte.
Und das erstickende Gefühl seiner permanenten Verantwortung für ihr Wohlergehen.
Sie würde eine Decke brauchen. Er ging auf den Wandschrank im Flur zu, als er das Telefon klingeln hörte. Er hob rasch ab, damit das Geräusch Doreen nicht weckte und die Szene auslöste, die er so sehr fürchtete.
Pete Sparks war am anderen Ende der Leitung. »Tut mir leid, daß ich dich so spät anrufe«, sagte er, »aber Dr. Elliot hat darauf bestanden. Sie wollte dich selbst anrufen, falls ich es nicht täte.«
»Ist es wegen der aufgeschlitzten Reifen? Mark hat mich schon deswegen angerufen.«
»Nein, es ist etwas anderes.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin in ihrer Praxis. Jemand hat sämtliche Fensterscheiben eingeworfen.«
16
Alles war voller Glas – glitzernde Scherben waren über den Teppich verstreut und bedeckten den Zeitschriftentisch und die Couch im Wartezimmer. Durch die eingeschlagenen Fenster drang die Nachtluft ein; kleine Schneeflocken wehten herein und legten sich wie ein feiner Spitzenbesatz auf die Möbel.
Schweigend und schockiert ging Claire vom Wartezimmer weiter ins Vorzimmer. Das Fenster neben Veras Schreibtisch war auch eingeworfen; Glassplitter und abgebrochene Eiszapfen blitzten ihr von der Computertastatur aus entgegen. Der Wind hatte lose Papiere und Schnee hier und da zu kleinen Verwehungen aufgeschichtet – ein weißes Chaos, das schon bald zu matschigen Klumpen auf dem Teppich zusammenschmelzen würde.
Sie hörte Lincolns Stiefel auf dem Glas knirschen. »Das Sperrholz ist unterwegs, Claire. Es soll noch mehr Schnee geben, also werden sie die Fenster noch heute nacht vernageln.«
Sie starrte immer noch den Schnee auf ihrem Teppich an.
»Es ist wegen meiner Äußerungen heute abend bei der Versammlung. Nicht wahr?«
»Das hier ist nicht das einzige Gebäude, das verwüstet worden ist. Diese Woche gab es mehrere Fälle.«
»Aber für mich ist es das zweite Mal in einer Nacht. Zuerst meine Reifen. Und dann das hier. Sagen Sie mir ja nicht, das sei ein Zufall.«
Officer Pete Sparks kam herein. »Mit den Nachbarn haben wir nicht viel Glück, Lincoln. Sie haben angerufen, als sie den Krach hörten, aber sie haben nicht gesehen, wer es war. Es ist genau wie bei dem Vorfall letzte Woche drüben in Bartletts Werkstatt. Scheibe eingeworfen, und dann nichts wie weg.«
»Aber bei Joe Bartlett wurde nur ein Fenster eingeworfen«, sagte sie. »Bei mir
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