Trügerische Ruhe
schmelzendem Schnee auf dem Glas zurück. Dann senkten sich neue Flocken herab, und eine weiße Wand versperrte erneut den Blick auf die nächtliche Straße.
»Wenn es den Anschein hatte, daß ich mich mit Ihnen nicht anfreunden konnte, Claire«, sagte er, »dann nur deshalb, weil ich mich so dagegen gewehrt habe.«
Er streckte wieder die Hand nach dem Türgriff aus. Wieder hielt sie ihn mit einer Berührung zurück, und jetzt verharrte ihre Hand auf seinem Arm.
Er drehte sich zu ihr um. Diesmal sahen sie einander wirklich in die Augen, ohne daß einer von beiden zurückwich oder den Blick abwandte.
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küßte sie. Bevor er sich wieder von ihr lösen konnte, bevor er seinen Impuls bereuen konnte, beugte sie sich zu ihm herüber und erwiderte seinen Kuß.
Seine Lippen, der Geschmack seines Mundes, waren neu und fremd für sie. Der Kuß eines Fremden. Eines Mannes, dessen so lange verborgenes Verlangen nach ihr jetzt wie ein Fieber brannte. Auch sie war von der Krankheit befallen, fühlte die gleiche Hitze in ihrem Gesicht aufsteigen, sich über ihren ganzen Körper ausbreiten, als er sie an sich zog. Er murmelte ihren Namen, einmal, zweimal, wie erstaunt darüber, daß sie es war, die in seinen Armen lag.
Grelles Scheinwerferlicht drang plötzlich durch die schneebedeckte Windschutzscheibe. Sie ließen voneinander ab und saßen in schuldbewußtem Schweigen da, während sie auf die Schritte lauschten, die sich dem Transporter näherten. Jemand klopfte an das Fenster der Beifahrertür. Lincoln ließ die Scheibe herunter, und ein paar Schneeflocken wurden in den Wagen geweht.
Officer Mark Dolan spähte herein. Er sah Lincoln an und dann Claire, und alles, was er sagte, war »Oh«. Eine Silbe – eine Welt von Bedeutung.
»Ich, äh, ich habe gesehen, daß der Motor lief, und da habe ich mich gefragt, ob bei Dr. Elliot wohl alles in Ordnung ist«, erklärte Dolan. »Sie wissen schon, Kohlenmonoxydvergiftung und so ...«
»Es ist alles in bester Ordnung«, sagte Lincoln. »Ja. Also gut dann.« Dolan trat vom Fenster zurück.
»Nacht, Lincoln.«
»Gute Nacht.«
Nachdem Dolan weggegangen war, saßen Claire und Lincoln noch eine Weile schweigend da. Dann sagte Lincoln: »Morgen wird es die ganze Stadt wissen.«
»Ja, da bin ich mir sicher. Es tut mir leid.«
»Mir nicht.« Er stieg aus und lachte trotzig. »Um ehrlich zu sein, Claire, ich schere mich einen Dreck darum. Alles, was mir in meinem Leben an Schlimmem zugestoßen ist, war gleich allgemein bekannt. Jetzt passiert mir einmal etwas Gutes, und dann soll es meinetwegen auch allgemein bekannt werden.«
Sie schaltete die Scheibenwischer ein. Durch die freigelegte Scheibe sah sie, wie er ihr zum Abschied zuwinkte und sich dann auf den Weg zu seinem Wagen machte. Officer Dolan parkte noch in der Nähe, und Lincoln blieb stehen, um mit ihm zu sprechen.
Während sie davonfuhr, fiel ihr plötzlich ein, was Mitchell Groome ihr am Abend über Damaris Hornes vertrauliche Quelle gesagt hatte.
Dunkles Haar, mittelgroß. Macht die Nachtschicht.
Mark Dolan, dachte sie.
Am nächsten Morgen fuhr Lincoln nach Süden, nach Orono. Er hatte nicht gut geschlafen, hatte stundenlang wachgelegen und über die Ereignisse des Abends und der Nacht gegrübelt. Über die Stadtversammlung. Über sein Gespräch mit Iris Keating. Über die Verwüstung in Claires Praxis. Und über Claire selbst.
Am meisten hatte er über Claire nachgedacht.
Um sieben war er unausgeschlafen aufgewacht und nach unten gegangen. Die Wirklichkeit hatte ihn wie ein kalter Schlag ins Gesicht getroffen, als er Doreen immer noch schlafend auf der Wohnzimmercouch vorfand. Sie lag ausgestreckt da, ein Arm hing seitlich herab; ihr rotes Haar war stumpf und fettig, und ihr Mund stand halb offen. Er stand eine Weile da und sah auf sie hinab, während er überlegte, wie er sie wohl zum Gehen überreden konnte, ohne daß sie allzuviel jammerte und schrie, aber er war im Augenblick zu müde, um sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Die Sorge um Doreen hatte ihn in seinem Leben schon so viel Energie gekostet. Allein ihr Anblick schien seine Glieder nach unten zu ziehen, schien wie ein schweres Gewicht an ihm zu hängen, als ob Doreen und das Gesetz der Schwerkraft in irgendeiner engen Verbindung miteinander stünden.
»Es tut mir leid, Schatz«, sagte er leise. »Aber ich habe vor, mein eigenes Leben zu leben.«
Er erledigte einen Anruf, dann ließ er Doreen schlafend
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