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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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die gegen die Windschutzscheibe getrieben wurden, schmolzen und rannen wie Tränen über das Glas.
    »Das Schlimmste war, daß ich nichts davon gewußt hatte. So wenig hatte er mir von sich erzählt, so wenig war ich auf dem laufenden, was meinen eigenen Sohn betraf.
    Als die Polizei mich an diesem Abend anrief, um mir zu sagen, daß es einen Unfall gegeben hatte – daß Noah in einem gestohlenen Wagen gefahren war –, sagte ich ihnen, es müsse ein Irrtum sein. Mein Sohn würde so etwas nicht tun. Mein Sohn verbringe die Nacht im Haus eines Freundes. Aber dem war nicht so. Er saß zu dem Zeitpunkt mit einer Platzwunde am Kopf in der Notaufnahme. Und sein Freund – einer der Jungs – lag im Koma. Ich sollte wohl dankbar dafür sein, daß mein Sohn niemals vergißt, sich anzuschnallen. Selbst wenn er dabei ist, ein Auto zu stehlen.« Sie schüttelte den Kopf und stieß einen ironischen Seufzer aus. »Die anderen Eltern waren genauso schockiert wie ich. Sie konnten nicht glauben, daß ihre Jungs so etwas tun würden. Sie glaubten, Noah hätte sie dazu überredet. Noah war derjenige, der den schlechten Einfluß ausübte. Was konnte man schon von einem Jungen erwarten, der keinen Vater mehr hat?
    Es machte für sie keinen Unterschied, daß Noah von den dreien der jüngste war. Für sie lag es nur an dem fehlenden Vater. Und daran, daß ich als Ärztin zu beschäftigt war, daß ich mich zuviel um die Familien anderer Leute kümmerte, anstatt auf meine eigene zu achten.«
    Es schneite jetzt stärker; der Schnee bedeckte die Windschutzscheibe und nahm ihr die Sicht auf die Straße.
    »Das Schlimmste war, daß ich ganz ihrer Meinung war. Irgend etwas mußte ich falsch machen – irgendwie wurde ich ihm nicht gerecht. Und ich konnte nur noch daran denken, wie ich alles wieder in Ordnung bringen könnte.«
    »Die Koffer zu packen und von zu Hause wegzugehen ist eine ziemlich drastische Maßnahme.«
    »Ich hoffte auf ein Wunder. Ich hoffte, es würde sich plötzlich doch noch alles in Wohlgefallen auflösen. Wir hatten es so weit gebracht, daß wir einander haßten. Ich hatte keine Kontrolle darüber, wo er hinging oder was er machte. Und was das Schlimmste war, ich konnte seine Freunde nicht aussuchen. Ich konnte sehen, wohin das alles führen würde. Noch ein gestohlenes Auto, noch eine Verhaftung. Noch mehr nutzlose Beratungsgespräche ...«
    Sie holte tief Luft. Die Scheibe war inzwischen mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, und sie hatte das Gefühl, begraben zu sein, eingemauert mit diesem Mann an ihrer Seite. »Und dann«, sagte sie, »sind wir nach Tranquility gefahren.«
    »Wann?«
    »Es war ein Wochenende im Herbst. Vor etwas mehr als einem Jahr. Die meisten Touristen waren schon weg, und das Wetter war noch sehr angenehm. Altweibersommer. Noah und ich mieteten einen Bungalow am See. Jeden Morgen beim Aufwachen hörte ich die Seetaucher. Und sonst nichts. Nur die Seetaucher und die Stille. Das war es, was ich an diesem Wochenende am meisten liebte, dieses Gefühl vollkommenen Friedens. Endlich einmal stritten wir uns nicht. Wir hatten sogar Spaß zusammen. Und da wußte ich, daß ich Baltimore verlassen wollte ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Sie haben mich richtig eingeschätzt, Lincoln. Ich bin wie all die anderen Fremden, die in diese Stadt ziehen, die vor einem anderen Leben davonlaufen, vor anderen Problemen. Ich war mir nicht sicher, wohin ich gehen wollte. Ich wußte nur, daß ich nicht bleiben konnte, wo ich war.«
    »Und jetzt?«
    »Hier kann ich auch nicht bleiben«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
    »Es ist noch zu früh für diese Entscheidung, Claire. Sie sind noch nicht lange genug hier; Sie brauchen noch Zeit, um Ihre Praxis aufzubauen.«
    »Ich habe neun Monate gehabt. Den ganzen Sommer und den ganzen Herbst habe ich in dieser Praxis gesessen und auf die Flut von Patienten gewartet. Diejenigen, die tatsächlich gekommen sind, waren fast alle Touristen. Sommerleute, die mit einem verstauchten Knöchel oder einem verdorbenen Magen herkamen. Als der Sommer vorbei war, sind sie alle nach Hause gefahren. Und mir wurde schlagartig klar, wie wenige meiner Patienten eigentlich in dieser Stadt wohnten. Ich glaubte, ich könnte weiter durchhalten, und die Leute würden lernen, mir zu vertrauen. Vielleicht wäre es in ein oder zwei Jahren so gekommen. Aber nach dem heutigen Abend ist das undenkbar. Ich habe bei der Versammlung gesagt, was ich zu sagen hatte, und der Stadt hat es nicht

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