Trügerische Ruhe
daß Soziologen das hier erklären können.«
»Okay. Wie lautet Ihre Erklärung, Chief Kelly?«
»Regen.« Es war lange still. »Wie bitte?«
»Die Wetterbedingungen waren 1946 genau wie in diesem Jahr. Es fing an mit heftigen Regenfällen im April. Die Brücke wurde unterspült, Vieh ertrank –«
Vince rollte die Augen gen Himmel. »Eine Flut von biblischen Ausmaßen?«
»Hören Sie, ich bin nicht religiös –«
»Ich glaube auch nicht an Gott, Chief Kelly Ich bin Wissenschaftler.«
»Dann suchen Sie doch immer nach bestimmten Mustern in der Natur, oder? Nach Korrelationen. Also, das Muster, das ich in den betreffenden Jahren erkenne, ist folgendes. Im April und Mai erreichen die Niederschläge in unserer Stadt Rekordwerte. Der Locust River tritt über die Ufer, und es gibt erhebliche Schäden an Häusern entlang des Flusses. Dann hört es auf zu regnen, und im Juli und August gibt es überhaupt keinen Niederschlag. Es ist sogar ungewöhnlich heiß, und in beiden Jahren steigt das Thermometer auf Rekordhöhen.« Er holte tief Luft und atmete dann langsam aus. »Und dann, im November, geht es los.«
»Was geht los?«
»Das Morden.« Vince schwieg; seine Miene war verschlossen. »Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte Lincoln.
»Sie haben keine Ahnung, wie verrückt es klingt.«
»Aber der Zusammenhang besteht. Dr. Elliot glaubt, es könne sich um ein natürliches Phänomen handeln. Eine neue Bakterien- oder Algenart im See, die Persönlichkeitsveränderungen verursacht. Ich habe von einem ähnlichen Fall in den Flüssen unten im Süden gelesen; ein Mikroorganismus, der Millionen von Fischen tötet. Er produziert ein Toxin, das auch Menschen gefährlich wird. Es beeinträchtigt die Konzentrationsfähigkeit und löst zuweilen Wutanfälle aus.«
»Sie meinen sicher die Dinoflagellaten, Pfiesteria. «
»Ja. Es könnte sein, daß hier etwas ähnliches geschieht. Deshalb wüßte ich gerne mehr über die Gows. Insbesondere, ob es in dem Jahr, in dem sie starben, starke Regenfälle gegeben hat. Die statistischen Aufzeichnungen reichen nicht so weit zurück. Ich brauche zeitgenössische Berichte.«
Jetzt begriff Vince endlich. »Sie wollen meine Zeitungsausschnitte sehen.«
»Sie enthalten vielleicht die Informationen, nach denen ich suche.«
»Eine Überschwemmung.« Vince lehnte sich zurück und runzelte die Stirn, als sei ihm gerade eine Erinnerung wieder ins Gedächtnis gekommen. »Das ist seltsam. Irgend etwas war da mit einer Überschwemmung ...« Er schwenkte seinen Stuhl herum, zog eine Schublade in dem Aktenschrank auf und begann, darin herumzuwühlen. »Wo habe ich das nur gesehen? Wo, wo ...« Er zog einen Ordner mit der Aufschrift »November 1887, Two Hills Herald « hervor. Er enthielt einen Stoß fotokopierter Zeitungsartikel.
»Der Regen muß im Frühling gewesen sein«, sagte Lincoln.
»In den Ausschnitten vom November werden Sie darüber nichts finden.«
»Nein, das war irgend etwas im Zusammenhang mit dem Gow-Fall. Ich weiß noch, daß ich mir eine Notiz gemacht habe.« Er blätterte die Kopien durch, hielt dann plötzlich inne und starrte auf ein zerknittertes Blatt. »Okay, hier ist der Artikel, vom dreiundzwanzigsten November. Überschrift: SIEBZEHNJÄHRIGER METZELT EIGENE FAMILIE NIEDER. FÜNF TOTE. Dann werden die Opfer erwähnt, Mr. und Mrs. Theodore Gow, ihre Kinder, Jennie und Joseph, und Mrs. Gows Mutter, Althea Frick.« Er legte das Blatt auf den Tisch. »Jetzt weiß ich es wieder. Es stand in den Todesanzeigen.«
»Was?«
Vince schlug eine weitere fotokopierte Seite auf. »Die Anzeige für Mrs. Gows Mutter. ›Althea Frick, 62, ermordet Anfang letzter Woche, wurde am 30. November zu Grabe getragen, bei einer gemeinsamen Begräbnisfeier für die Angehörigen der Familie Theodore Gow. Geboren in Two Hills als Tochter von Petras und Maria Gosse, war sie eine treusorgende Ehefrau und die Mutter zweier Kinder. Sie war einundvierzig Jahre verheiratet mit Donat Frick, der letztes Frühjahr ...‹« Vince brach plötzlich ab und sah Lincoln erschrocken an. »... ›der letztes Frühjahr bei der Überschwemmung des Locust River den Tod fand.‹«
Sie starrten einander an, überwältigt von dieser Bestätigung. Zu Vinces Füßen begann ein elektrischer Heizofen zu summen; die Heizdrähte leuchteten orange. Aber nichts konnte den kalten Schauer durchdringen, den Lincoln in diesem Moment fühlte. Er fragte sich, ob ihm jemals wieder warm sein würde.
»Vor ein paar Wochen«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher