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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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auf der Couch zurück und ging aus dem Haus. Als er losfuhr, spürte er, wie die ersten Schichten der Depression von ihm abfielen wie eine tote äußere Hülle. Die Straßen waren freigepflügt und gestreut; er trat aufs Gaspedal, und je schneller er wurde, desto mehr Schichten schien er abzuwerfen; er hatte das Gefühl, wenn er nur weit und schnell genug führe, würde der wahre Lincoln, der Mann, der er früher einmal gewesen war, schließlich zum Vorschein kommen, frisch und sauber und wie neugeboren. Er flog an Feldern vorbei, von denen der frischgefallene Schnee beim leisesten Windstoß in weißen Wölkchen aufstob. Immer weiterfahren, nicht anhalten, nicht zurückschauen. Er hatte ein Ziel, und seine Reise verfolgte einen bestimmten Zweck; aber im Moment war alles, was er spürte, der lustvolle Rausch der Flucht.
    Als er eine Stunde später auf dem Campus der University of Maine ankam, fühlte er sich erfrischt und erneuert, als ob er die ganze Nacht in einem bequemen Bett geschlafen hätte. Er ließ das Auto stehen und ging zu Fuß über den Campus; die kalte Luft an diesem kristallklaren Morgen gab ihm neue Energie.
    Lucy Overlock war in ihrem Büro im Anthropologischen Institut. Mit ihren Einsachtzig und ihrer üblichen Montur aus Jeans und Baumwollhemd glich sie eher einem Holzfäller als einer College-Professorin.
    Sie begrüßte ihn mit einem kräftigen Handschlag und einem kurzen Nicken und setzte sich an ihren Schreibtisch. Selbst im Sitzen machte sie mit ihren amazonenhaften Proportionen noch eine eindrucksvolle Figur. »Sie sagten am Telefon, daß Sie noch Fragen zu den Skeletten vom Locust Lake hätten.«
    »Ich wüßte gerne mehr über die Gow-Familie. Wie sie gestorben sind. Wer sie getötet hat.«
    Sie hob eine Augenbraue. »Wenn Sie jemanden wegen dieses Verbrechens verhaften wollen, kommen Sie ungefähr hundert Jahre zu spät.«
    »Mich beschäftigen die Todesumstände. Haben Sie eigentlich irgendwelche Zeitungsartikel über die Morde ausfindig gemacht?«
    »Ich nicht, aber Vince, mein Doktorand. Er wertet den Fall Gow für seine Dissertation aus. Eine Rekonstruktion eines alten Mordfalles auf der Grundlage von Knochenfunden. Er hat Wochen gebraucht, bis er endlich einen alten Bericht aufgespürt hat. Dieses Gebiet war damals so dünn besiedelt, daß es kaum in irgendwelchen Meldungen auftauchte.«
    »Wie sind die Gows denn nun zu Tode gekommen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, es ist die alte Geschichte. Leider ist Gewalt in Familien nicht nur ein modernes Phänomen.«
    »Also war es der Vater?«
    »Nein. Es war ihr siebzehnjähriger Sohn. Seine Leiche wurde Wochen später gefunden; sie hing an einem Baum. Offenbar Selbstmord.«
    »Was ist mit dem Motiv? War der Junge gestört?«
    Lucy lehnte sich zurück, und das Licht vom Fenster fiel auf ihr gebräuntes Gesicht. Die jahrelange Arbeit im Freien hatte ihre Spuren hinterlassen, und in der Wintersonne trat jede Sommersprosse, jede tiefer werdende Falte deutlich hervor.
    »Wir wissen es nicht. Die Familie lebte anscheinend in ziemlicher Abgeschiedenheit. Aus den alten Grundbüchern geht hervor, daß der Besitz der Gows das gesamte südliche Ufer des Sees umfaßte. Möglicherweise gab es gar keine Nachbarn, die den Jungen besser gekannt haben könnten.«
    »Die Familie war also wohlhabend?«
    »Wohlhabend würde ich nicht sagen, aber sie galt wohl als reich an Grundbesitz. Vince sagte, das Land sei seit dem späten achtzehnten Jahrhundert im Besitz der Familie gewesen, und zwar bis zu diesem ... Ereignis. Später wurde es Stück für Stück verkauft. Als Bauland.«
    »Ist Vince dieser gammelige Bursche mit dem Pferdeschwanz?«
    Sie lachte. »Alle meine Studenten sind gammelig. Es ist fast eine Zulassungsvoraussetzung.«
    »Und wo kann ich Vince jetzt finden?«
    »Es ist jetzt neun, da sollte er in seinem Büro sein. Im Kellergeschoß des Museums. Ich werde ihn anrufen und ihm sagen, daß Sie kommen.«
    Lincoln war schon einmal hiergewesen. Diesmal war der breite Holztisch mit Tonscherben bedeckt, nicht mit menschlichen Überresten wie damals, und die Kellerfenster waren von Schneewehen verdunkelt. Das fehlende Tageslicht und die feuchten Steinstufen erweckten in Lincoln den Eindruck, als sei er in eine weitläufige unterirdische Höhle hinabgestiegen. Er betrat das Labyrinth aus Lagerregalen und suchte sich einen Weg zwischen hoch aufragenden Stapeln von Kisten, deren Etiketten mit Schimmel überzogen waren. »Menschlicher

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