Trügerische Ruhe
Unterkieferknochen (männlich)« war alles, was er auf einem der Schilder erkennen konnte. Eine Holzkiste ist eine deprimierend anonyme Ruhestätte für etwas, das einmal der Kiefer eines Mannes war, dachte er. Er drang tiefer in das Labyrinth ein und spürte bereits ein Kratzen im Hals von all dem Staub und Schimmel; dazu kam ein rauchiger Duft, der sich verstärkte, je weiter er sich durch das Halbdunkel zum anderen Ende des Kellers vorarbeitete. Marihuana.
»Mr. Brentano?« rief er.
»Ich bin hier hinten, Chief Kelly«, antwortete eine Stimme. »Gehen Sie bei der ausgestopften Eule nach links.«
Lincoln ging ein paar Schritte weiter und stieß auf eine Glasvitrine mit einer großen Ohreule. Er wandte sich nach links.
Vince Brentanos »Büro« bestand aus kaum mehr als einem Schreibtisch und einem Aktenschrank, eingeklemmt zwischen Regalen voller Objekte. Weit und breit war kein Aschenbecher zu sehen, doch die Luft war vom Grasduft geschwängert, und der junge Mann, dem die Gegenwart eines Cops sichtlich unangenehm war, hatte eine trotzige Verteidigungshaltung eingenommen und sich mit verschränkten Armen hinter dem Schreibtisch verbarrikadiert. Lincoln sah ihm direkt in die Augen und streckte die Hand zur Begrüßung aus.
Nach kurzem Zögern ergriff Vince sie. Beiden war klar, was diese Geste bedeutete: Sie hatten eine Art Abkommen geschlossen.
»Setzen Sie sich«, sagte Vince. »Die Kiste können Sie auf den Boden stellen, aber passen Sie auf mit dem Stuhl – er wackelt ein bißchen. Alles hier drin wackelt. Sie sehen ja, ich habe das absolute Luxusbüro bekommen.«
Lincoln stellte die Kiste vom Stuhl auf den Boden. Aus dem Inneren drang ein ominöses Klappern.
»Knochen«, sagte Vince.
»Menschliche?«
»Tieflandgorillas. Ich benutze sie in meinen Übungen. Ich drücke sie meinen Studenten in die Hand und bitte sie um eine Diagnose, sage ihnen aber nicht, daß es sich nicht um Menschenknochen handelt. Sie sollten mal hören, was ich da für Antworten kriege. Von Akromegalie bis Syphilis ist alles dabei.«
»Das ist eine Falle.«
»He, das ganze Leben ist eine Falle.« Vince lehnte sich zurück und musterte Lincoln nachdenklich. »Ich nehme an, Ihr Besuch hier ist auch eine. Die Polizei vergeudet ihre Zeit normalerweise nicht mit hundert Jahre zurückliegenden Mordfällen.«
»Ich interessiere mich aus anderen Gründen für die Gow-Familie.«
»Und die wären?«
»Ich glaube, es könnte ein Zusammenhang zwischen diesen Todesfällen und unseren aktuellen Problemen in Tranquility bestehen.«
Vince sah verwirrt aus. »Sprechen Sie von den Morden, die dort vor kurzem begangen wurden?«
»Sie wurden von Jugendlichen begangen, die ansonsten ganz normal waren. Von Teenagern, die einfach ausgerastet sind und getötet haben. Wir haben jetzt Kinderpsychologen da, die jedes einzelne Kind in der Stadt analysieren, aber sie können es auch nicht erklären. So habe ich angefangen, über die Sache mit den Gows nachzudenken. Über die Parallelen.«
»Sie meinen den Umstand, daß es sich bei den Tätern um Teenager handelt?« Vince zuckte die Achseln. »Auch ein Underdog läßt sich nun mal nicht alles gefallen. Wenn die Herrschenden ihre Macht zu rücksichtslos durchsetzen, kommt es zur Rebellion – auch bei Jugendlichen. Das hat es schon immer gegeben.«
»Das ist keine Rebellion. Es sind Kids, die plötzlich Amok laufen und ihre Freunde und Familien umbringen.« Er machte eine Pause. »Das gleiche ist vor zweiundfünfzig Jahren schon einmal geschehen.«
»Was?«
»Neunzehnhundertsechsundvierzig in Tranquility. Sieben Morde, alle im Monat November begangen.«
» Sieben? « Vinces Augen weiteten sich hinter seiner Nickelbrille. »In einer Stadt mit wie vielen Einwohnern?«
»1946 lebten siebenhundert Menschen in Tranquility Jetzt erleben wir die gleiche Krise noch einmal.«
Vince lachte ungläubig. »Mann, Ihre Stadt ist ja anscheinend die reinste Fundgrube für Soziologen, Chief. Aber geben Sie nicht den Kids die Schuld. Suchen Sie lieber bei den Erwachsenen. Wenn Kinder mit Gewalt aufwachsen, dann lernen sie, Probleme gewaltsam zu lösen. Dad verehrt die allmächtige Kanone, geht raus und knallt nur so zum Vergnügen einen Hirsch ab. Und die Botschaft kommt bei Junior an: Töten macht Spaß.«
»Das ist eine allzu einfache Erklärung.«
»Unsere Gesellschaft glorifiziert die Gewalt! Und dann geben wir den Kindern scharfe Waffen in die Hand. Fragen Sie irgendeinen Soziologen.«
»Ich glaube nicht,
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