Trügerische Ruhe
war nicht in der Stimmung, Nachsicht walten zu lassen. Sie schob sich durch den Kreis von Schaulustigen und packte einen der Jungen bei der Jacke. Es ist wieder mal Noah Elliot, dachte sie wütend, als sie ihn von J. D. Reid wegzerrte.
J. D. schnaubte wie ein rasender Stier und rammte Noah die Schulter in den Brustkorb, so daß Noah und Fern zusammen nach hinten kippten.
Fern landete flach auf dem Rücken; Sand und Schotter drangen in die Maschen ihres Wollkostüms ein. Sie rappelte sich wieder auf, wobei sie sich die Strumpfhose zerriß. Voll unkontrollierbarer Rage stürzte sie sich wieder in den Kampf und bekam diesmal J. D. am Kragen zu fassen. Sie zog ihn so heftig zurück, daß er dunkelrot wurde und zu würgen begann; dennoch ruderte er weiter mit den Armen und schwenkte die Fäuste gegen Noah.
Zwei Lehrer eilten Fern zur Hilfe. Jeder ergriff einen Arm, und zusammen zerrten sie J. D. rückwärts über den Asphalt.
»Du läßt gefälligst die Finger von meiner Schwester, Elliot!«
»Ich hab deine Schwester gar nicht angerührt!« schrie Noah zurück.
»Das habe ich aber anders gesehen!«
»Dann bist du nicht nur blöd, sondern auch blind!«
»Wenn ich euch noch einmal zusammen erwische, setzt’s was!«
»Aufhören! Beide!« rief Amelia schrill. Sie kam näher und stellte sich zwischen den beiden Jungen auf. »Du bist ein richtiger Loser, J. D.!«
»Besser ein Loser als die größte Schlampe der Schule.« Amelia wurde knallrot. »Sei still.«
»Schlampe!« stieß J. D. hervor. »Schlampe! Schlampe!«
Noah riß sich los und rammte J. D. die Faust ins Gesicht. Das krachende Geräusch des Schlages hallte wie ein Gewehrschuß durch die stille Winterluft.
Blut spritzte auf den Schnee.
»Es muß irgend etwas geschehen«, sagte Mrs. Lubec, die Geschichtslehrerin. »Wir können nicht ständig kleine Feuer löschen, während um uns herum der ganze Wald abbrennt.«
Fern saß zusammengekauert auf ihrem Stuhl; sie trug einen geborgten Jogginganzug und nippte an einer Tasse Tee. Sie wußte, daß sie von allen am Konferenztisch beobachtet wurde und daß sie irgendeine Entscheidung von ihr erwarteten – aber sie konnten gefälligst noch ein bißchen länger warten. Sie mußte sich zuerst einmal aufwärmen und das Gefühl in ihre erfrorenen Füße zurückkehren lassen, die sie in ein Handtuch gehüllt hatte. Der Jogginganzug roch nach Schweiß und abgestandenem Parfüm. Er roch wie seine Besitzerin, Miss Boodles, die pummelige Turnlehrerin, und er war ausgeleiert und hing ihr lose um die Hüften. Fern unterdrückte ein Schaudern und konzentrierte sich wieder auf die fünf Personen, die um den Konferenztisch versammelt waren. In zwei Stunden sollte sie den Bezirksschulinspektor treffen, und sie mußte ihm einen neuen Aktionsplan vorlegen. Dazu brauchte sie den Rat ihres Lehrkörpers.
Mit ihr im Besprechungsraum waren die stellvertretende Rektorin, zwei Lehrerinnen, die psychologische Beraterin der Schule sowie der Amtspsychologe des Bezirks, Dr. Lieberman. Als einziger Mann in der Runde legte er jenes überhebliche Gehabe an den Tag, in das Männer oft verfallen, wenn sie sich als Hahn im Korb fühlen.
Die Englischlehrerin sagte: »Ich denke, es ist an der Zeit, härter durchzugreifen, mit drakonischen Maßnahmen. Wenn es nötig ist, bewaffnete Aufseher in den Korridoren zu postieren und Unruhestifter von der Schule zu verweisen, dann werden wir genau das tun.«
»Das ist nicht der Ansatz, den ich wählen würde«, meinte Dr. Lieberman. Mit einem spürbaren Mangel an Bescheidenheit fügte er hinzu: »– meiner bescheidenen Meinung nach.«
»Wir haben es mit intensiven Einzelberatungen versucht«, sagte Fern. »Wir haben es mit Konfliktbewältigungskursen versucht. Wir haben es mit Suspendieren, Nachsitzen und inständigen Bitten versucht. Wir haben sogar die Desserts von der Speisekarte gestrichen, um ihren Zuckerhaushalt nach unten zu korrigieren. Wir haben die Kontrolle über diese Kinder verloren, und ich weiß nicht, wer oder was daran schuld ist. Ich weiß nur, daß meine Lehrerinnen und Lehrer am Ende ihrer Kräfte sind und ich kurz davor bin, die Kavallerie zu rufen.«
Sie wandte sich an die stellvertretende Rektorin. »Wo ist Chief Kelly? Wollte er nicht dazukommen?«
»Ich habe in der Zentrale eine Nachricht hinterlassen. Chief Kelly ist heute morgen aufgehalten worden.«
»Muß wohl eine dieser nächtlichen Fahrzeugkontrollen gewesen sein«, witzelte Mrs. Lubec.
Fern sah sie an.
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