Trügerische Ruhe
schuld, nicht Barry! J. D. läßt ihn nie in Ruhe! Und die anderen auch nicht!«
Er drehte sich zu seinen Klassenkameraden um. »Ihr hackt doch alle ständig auf Barry rum!«
Mr. Sanborn trommelte jetzt wild auf dem Pult herum.
»Ihr seid alle Arschlöcher!« rief Noah.
J. D. lachte. »Danke gleichfalls.«
Noah sprang auf, jeder Muskel zum Angriff auf J. D. angespannt. Ich bringe ihn um!
Eine Hand packte Noah an der Schulter. »Das reicht!« rief Mr. Sanborn. »Noah, ich kümmere mich um J. D.! Du gehst jetzt raus und regst dich erst mal ab.«
Noah schüttelte ihn ab. Die Wut, in die er sich so bedrohlich hineingesteigert hatte, pulsierte immer noch in seinem Körper, aber es gelang ihm, sie niederzuringen. Er warf J. D. einen letzten Blick zu – einen Blick, der sagte: Komm mir noch einmal in die Quere, und ich mach dich alle! Dann ging er hinaus.
Er fand Barry bei den Schließfächern, wo er sich schwitzend und schniefend mit seinem Zahlenschloß abmühte.
Barry hämmerte frustriert gegen die Tür, drehte sich dann um und ließ sich dagegenfallen, wobei sein Gewicht das Metall fast zu verbiegen drohte. »Ich bringe ihn um«, schnaufte er.
»Du und ich, wir beide«, sagte Noah.
»Ich meine es ernst.« Barry sah ihn an, und Noah wurde plötzlich klar, daß er es tatsächlich ernst meinte.
Es klingelte; die Stunde war zu Ende. Eine Flut von Schülern strömte aus den Türen der Klassenzimmer und wirbelte durch die Gänge. Noah stand nur da und sah Barry nach – ein schwitzender Ballon, der bald von der Menge verschluckt wurde. Er bemerkte Amelia erst, als sie direkt neben ihm stand und seinen Arm berührte.
Noah zuckte zusammen und sah sie an.
»Ich habe von dir und J. D. gehört«, sagte sie.
»Dann hast du wohl auch gehört, daß ich derjenige war, der rausgeworfen wurde.«
»J. D. ist ein Kotzbrocken. Bis jetzt hat es niemand gewagt, ihm in die Quere zu kommen.«
»Ja. Mir tut es nur leid, daß ich derjenige war.« Er stellte seine Kombination ein und riß die Tür des Schließfachs auf. Sie knallte gegen die Tür des Nachbarfachs. »Mußte ja auch unbedingt mein großes Maul aufreißen.«
»Ja, das mußtest du. Ich wünschte, alle hätten den Mut dazu.« Sie ließ den Kopf hängen, und ihr goldenes Haar fiel über ihre Wange. Sie wandte sich ab.
»Amelia?«
Sie sah ihn an. Wie oft schon hatte er ihr heimliche Blicke zugeworfen, einfach nur, weil er so gerne ihr Gesicht anschaute. Wie oft hatte er schon davon geträumt, wie es wohl sein würde, dieses Gesicht zu berühren, es zu küssen. Gelegenheiten hatte es durchaus gegeben, nur hatte er nie den Mut aufgebracht, es tatsächlich zu tun. Jetzt aber blickte sie ihn mit solch stiller Intensität an, daß er einfach nicht anders konnte. Die offene Tür seines Schließfachs schirmte sie vom Gang ab. Er streckte die Hand aus, ergriff die ihre und zog sie sanft an sich.
Sie folgte ihm bereitwillig. Mit großen Augen und geröteten Wangen ließ sie sich an seine Brust sinken.
Ihre Lippen berührten sich ganz zart, es war fast so, als sei es nicht wirklich geschehen. Sie sahen einander in die Augen, eine wortlose Bestätigung, daß es zu kurz gewesen war. Daß sie es beide gleich noch einmal versuchen wollten.
Sie küßten sich wieder. Fester diesmal, intensiver – die Berührung ihrer Lippen ermutigte sie beide. Er legte den Arm um sie. Sie war so zart, wie er es sich in seinen Phantasien vorgestellt hatte, wie duftende, glänzende Seide. Jetzt hatte auch sie den Arm um ihn geschlungen und zog ihn fordernd an sich heran.
Die Schließfachtür wurde heftig zurückgeschlagen, und plötzlich stand jemand neben ihnen.
»Welch rührende Szene!« höhnte J. D.
Amelia schreckte zurück und starrte ihren Stiefbruder an.
»Du billiges kleines Flittchen!« sagte J. D. und versetzte ihr einen Stoß.
Amelia stieß ihn zurück. »Rühr mich nicht an!«
»Oh! Du hast es wohl lieber, wenn Noah dich abgrapscht?«
»Das reicht!« sagte Noah. Er kam auf J. D. zu, die Hand bereits zur Faust geballt. Dann erstarrte er. Mr. Sanborn war eben aus dem Probenraum gekommen und stand auf dem Gang; sein Blick ruhte auf ihnen.
»Draußen«, flüsterte J. D. Seine Augen funkelten. »Auf dem Parkplatz. Jetzt gleich!«
Fern Cornwallis kam aus dem Schulgebäude gestürzt und lief durch den knöcheltiefen Schnee zum Lehrerparkplatz. Als sie bei den kämpfenden Jungen ankam, waren ihre brandneuen Lederpumps schon völlig durchweicht und ihre Zehen taub vor Kälte. Sie
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