Trügerische Ruhe
eine gute Frau, die sich um dich kümmert.
»Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte er. »Ich bin erst vor ein paar Minuten zurückgekommen.«
»Wir sind gerade fertig mit unserer Besprechung«, sagte Fern. »Aber wir beide müssen uns unterhalten, falls du jetzt ein bißchen Zeit hast.« Sie stand auf und wurde sofort verlegen, als sie sah, wie er überrascht ihre schäbige Kluft musterte. »Ich mußte wieder einmal zwei Kampfhähne auseinanderbringen, und dabei bin ich zu Boden gegangen«, erklärte sie. Sie zupfte an dem Sweatshirt. »Ich mußte mich rasch umziehen. Die Farbe ist nicht gerade optimal für meinen Typ.«
»Du hast dich doch nicht verletzt, oder?«
»Nein. Obwohl es weh tut, ein Paar gute italienische Schuhe ruiniert zu sehen.«
Er lächelte – eine Bestätigung, daß sie trotz ihrer augenblicklichen unvorteilhaften Erscheinung noch in der Lage war, Witz und Charme auszustrahlen, und daß ihr Charme bei ihm auch ankam.
»Ich warte in dem anderen Büro auf dich«, sagte er und ging wieder hinaus.
Sie konnte ihm nicht einfach nachgehen; zuerst mußte sie einen eleganten Abgang hinlegen. Als sie sich endlich erfolgreich losgeeist hatte, waren schon fünf Minuten vergangen, und Lincoln war nicht mehr allein in dem Büro.
Bei ihm war Claire Elliot.
Die beiden schienen Fern nicht zu bemerken, als sie aus dem Besprechungszimmer kam, so sehr waren sie ineinander vertieft. Sie berührten sich nicht, aber Fern sah in Lincolns Gesicht eine pulsierende Intensität, die sie nie zuvor bei ihm bemerkt hatte. Es war, als sei er plötzlich aus einem langen Winterschlaf erwacht und weilte wieder unter den Lebenden.
Sie fühlte augenblicklich einen beinahe körperlichen Schmerz. Sie machte einen Schritt auf die beiden zu, dann wurde ihr klar, daß sie nichts zu sagen wußte. Was sieht er in dir, das er in mir nie gesehen hat? fragte sie sich, während sie Claire ansah. All die Jahre hatte sie verfolgt, wie Lincolns Ehe langsam zerbrach, und sie hatte geglaubt, am Ende würde die Zeit auf ihrer Seite sein. Doreen würde allmählich von der Bildfläche verschwinden, und Fern würde ihren Platz einnehmen. Statt dessen kam nun diese gewöhnliche Frau daher, mit ihren Snowboots und ihrem braunen Rolli, und stellte sich einfach an die Spitze der Schlange. Du gehörst hier nicht her, dachte Fern haßerfüllt, als Claire sich zu ihr umdrehte. Du wirst nie hierhergehören. »Mary Delahanty hat mich angerufen«, sagte Claire.
»Noah ist wohl wieder in eine Schlägerei geraten.«
»Ihr Sohn wurde vom Unterricht ausgeschlossen«, sagte Fern mit brutaler Direktheit. Mehr als alles andere fühlte sie den Drang, dieser Frau Schaden zuzufügen, und es tat ihr gut, zu sehen, wie Claire zusammenzuckte.
»Was ist passiert?«
»Er hat sich wegen eines Mädchens geprügelt. Offenbar ist Noah ihr nachgestiegen, und der Bruder des Mädchens ist eingeschritten, um seine Schwester zu beschützen.«
»Das kann ich nicht recht glauben. Mein Sohn hat nie irgendwelche Mädchen erwähnt –«
»Es ist heutzutage nicht leicht für Kinder, sich Gehör zu verschaffen, wenn die Eltern beruflich so eingespannt sind.«
Fern hatte Claire Elliot verletzen wollen, und offensichtlich war es ihr gelungen, denn Claires schlechtes Gewissen drückte sich in der Röte aus, die in ihre Wangen stieg. Fern wußte genau, wohin sie zu zielen hatte – auf den Punkt, an dem alle Eltern am empfindlichsten sind und den sie durch Selbstvorwürfe und ein überwältigendes Verantwortungsgefühl immer noch verletzlicher machen.
»Fern«, sagte Lincoln. Sie hörte einen Vorwurf aus seiner Stimme heraus. Als sie sich zu ihm umdrehte, empfand sie plötzlich eine tiefe Scham. Sie hatte die Kontrolle verloren, hatte ihrem Ärger Luft gemacht und sich von ihrer schlechtesten Seite gezeigt, während Claire die Rolle des Unschuldslamms spielte.
Mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Ihr Sohn wartet im Arrestzimmer. Sie können ihn jetzt mitnehmen.«
»Wann kann er wieder zur Schule kommen?«
»Ich habe darüber noch nicht entschieden. Ich werde mit den Lehrern sprechen und mir ihre Empfehlungen anhören. Die Strafe muß so empfindlich sein, daß er es sich ernsthaft überlegt, bevor er noch einmal irgendwelchen Ärger macht.«
Sie warf Claire einen vielsagenden Blick zu. »Er hat doch schon einmal Ärger gemacht, nicht wahr?«
»Da war nur dieser Vorfall mit dem Skateboard –«
»Nein, ich meine früher. In Baltimore.«
Claire starrte sie
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