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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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schockiert an. Es ist also wahr, dachte Fern befriedigt. Der Junge war immer schon ein Problemfall.
    »Mein Sohn ist kein Unruhestifter«, sagte Claire trotzig, aber gefaßt.
    »Und doch hat er eine Jugendstrafe bekommen.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Man hat mir ein paar Artikel zugeschickt – aus einer in Baltimore erscheinenden Zeitung.«
    »Wer hat sie Ihnen geschickt?«
    »Ich weiß es nicht. Das spielt keine Rolle.«
    »Das spielt sehr wohl eine Rolle! Jemand versucht, meinen Ruf zu ruinieren und mich aus der Stadt zu treiben. Jetzt machen sie sich an meinen Sohn ran!«
    »Aber die Berichte treffen doch zu, oder? Er hat tatsächlich ein Auto gestohlen.«
    »Das war kurz nach dem Tod seines Vaters. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, was es für einen Zwölfjährigen bedeutet, wenn er mit ansehen muß, wie sein Vater langsam dahinsiecht? Wie so etwas einem Kind das Herz brechen kann? Noah hat sich nie davon erholt. Ja, er ist immer noch zornig. Er trauert immer noch. Aber ich kenne ihn, und ich sage Ihnen, mein Sohn ist nicht schlecht. «
    Fern unterdrückte eine Erwiderung. Es hatte keinen Sinn, sich mit einer wütenden Mutter anzulegen. Es war ihr völlig klar, daß Dr. Elliot blind war, daß die Liebe ihr die Augen verschloß.
    Lincoln fragte: »Wer war der andere Junge?«
    »Spielt das eine Rolle?« gab Fern zurück. »Noah muß sich mit den Folgen seines eigenen Verhaltens auseinandersetzen.«
    »Du hast angedeutet, daß der andere Junge die Schlägerei angefangen hat.«
    »Ja, um seine Schwester zu beschützen.«
    »Hast du mit dem Mädchen gesprochen? Hast du eine Bestätigung, daß sie den Schutz tatsächlich nötig hatte?«
    »Ich brauche keine Bestätigung. Ich sah zwei Jungen miteinander kämpfen. Ich lief hin, um sie auseinanderzubringen, und wurde zu Boden gestoßen. Was da draußen passiert ist, war häßlich. Brutal. Ich kann nicht glauben, daß du mit einem Jungen sympathisierst, der mich angegriffen hat –«
    »Angegriffen?«
    »Es kam zu Körperkontakt. Ich bin gestürzt.«
    »Möchtest du Anzeige erstatten?«
    Sie öffnete den Mund, um ja zu sagen, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Eine Anzeige würde bedeuten, daß sie vor Gericht aussagen mußte. Und was würde sie unter Eid sagen können? Sie hatte die Rage in Noahs Gesicht gesehen, hatte gewußt, daß er sie schlagen wollte. Die Frage, ob er tatsächlich die Hand gegen sie erhoben hatte, war nur eine Formsache; entscheidend war seine Absicht; die Gewaltbereitschaft, die aus seinen Augen sprach. Aber hatte das sonst noch jemand gesehen?
    »Nein, ich möchte keine Anzeige erstatten«, sagte sie.
    Und sie fügte großzügig hinzu: »Ich werde ihm noch einmal eine Chance geben.«
    »Ich bin sicher, Noah wird es dir danken, Fern«, sagte er. Und sie dachte betrübt: Es ist nicht die Anerkennung des Jungen, auf die es mir ankommt. Sondern deine.
    »Möchtest du darüber reden?« fragte Claire, während sie von der Schule nach Hause fuhren.
    Noahs Antwort bestand darin, daß er wie eine Amöbe zurückwich und so weit wie möglich von ihr abrückte.
    »Irgendwann müssen wir darüber reden, Schatz.«
    »Wozu denn?«
    »Wozu? Du bist schließlich von der Schule gewiesen worden, und wir wissen nicht, wann du wieder zugelassen wirst – wenn überhaupt.«
    »Dann gehe ich eben nicht mehr hin, na und? Ich habe da sowieso nichts gelernt.« Er drehte sich weg und starrte aus dem Fenster. Er kapselte sich von ihr ab.
    Sie fuhr eine Meile, ohne etwas zu sagen; den Blick auf die Straße gerichtet, ohne sie jedoch wirklich wahrzunehmen. Statt dessen sah sie vor ihrem geistigen Auge ihren Sohn als fünfjähriges Kind, wie er zusammengerollt auf dem Sofa gelegen hatte, stumm, zu gekränkt, um ihr erzählen zu können, wie die anderen Kinder ihn in der Schule gequält hatten. Er ist noch nie besonders mitteilsam gewesen, dachte sie. Er hat sich immer schon in Schweigen gehüllt, und jetzt ist dieses Schweigen noch tiefer geworden, noch undurchdringlicher.
    Sie sagte: »Ich habe darüber nachgedacht, was wir tun sollten, Noah. Du mußt mir sagen, was du willst. Ob du glaubst, daß ich das Richtige tue. Du weißt, daß meine Praxis nicht gut läuft. Und jetzt, mit den kaputten Fenstern und den ruinierten Teppichen, wird es Wochen dauern, bevor ich wieder Patienten empfangen kann. Wenn sie überhaupt zu mir kommen wollen ...« Sie seufzte. »Ich habe doch nur versucht, einen Ort zu finden, wo du dich wohl fühlen würdest, wo wir uns beide

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