Trügerische Ruhe
Haar zerzaust war; die losen Strähnen waren mit Schnee verkrustet.
»Ich habe ihn dort zurückgelassen«, sagte sie leise. »Ich hatte keine Wahl. Ich mußte die Kinder rausschaffen ...«
»Wer ist sonst noch drinnen?«
»Mindestens noch ein paar Dutzend Schüler.« Sie starrte auf das Gebäude; schmelzender Schnee tropfte von ihren Wangen.
»Lincoln hat eine Pistole. Warum benutzt er sie nicht einfach?«
Claire sah wieder zu der Sporthalle hinüber. Die Situation in dem Gebäude stand ihr jetzt deutlich vor Augen. Ein verstörter Junge. Ein Raum mit Dutzenden von Geiseln. Lincoln würde nicht unüberlegt handeln, und er würde auch nicht kaltblütig auf einen Jugendlichen schießen, wenn er es vermeiden konnte. Die Tatsache, daß noch keine Schüsse gefallen waren, bedeutete, daß es noch Hoffnung gab, ein Blutvergießen zu vermeiden.
Sie warf einen Blick auf die Polizisten, die sich hinter den geparkten Streifenwagen versammelt hatten, und sie sah ihre Anspannung, hörte die Erregung in ihren Stimmen. Es waren Kleinstadtcops, die es plötzlich mit einer Großstadtkrise zu tun hatten, und sie fieberten schon vor Ungeduld – egal, was es war, Hauptsache, sie konnten endlich in Aktion treten.
Mark Dolan gab den zwei Officers ein Zeichen, die sich schon zu beiden Seiten des Eingangs postiert hatten. Dolans Vorgesetzter saß in der Sporthalle fest, er hatte das Kommando übernommen – und ließ seinem Testosteron freien Lauf.
Claire lief durch den Schnee auf die Streifenwagen zu. Dolan und der Polizeichef von Two Hills sahen sie verblüfft an, als sie sich neben ihnen hinkauerte.
»Sie sollen doch zurückbleiben!« sagte Dolan.
»Sagen Sie nicht, daß Sie bewaffnete Leute da reinschicken wollen!«
»Der Junge hat eine Pistole.«
»Es wird Tote geben, Dolan!«
»Es wird Tote geben, wenn wir nichts unternehmen!« knurrte der Chief von Two Hills. Er gab den drei Cops, die hinter dem nächsten Wagen in Deckung gegangen waren, ein Zeichen.
Claire sah entsetzt zu, wie die Polizisten geduckt auf das Gebäude zuliefen und sich um den Eingang herum postierten.
»Tun Sie das nicht«, sagte sie zu Dolan. »Sie wissen nicht, wie die Situation da drinnen ist.«
»Wissen Sie es?«
»Es sind keine Schüsse gefallen. Geben Sie Lincoln eine Chance, mit dem Jungen zu verhandeln.«
»Lincoln hat nicht das Kommando, Dr. Elliot. Jetzt gehen Sie mir aus den Augen, sonst lasse ich Sie festnehmen!«
Sie starrte auf den Eingang der Sporthalle. Der Schnee fiel jetzt dichter und trübte ihre Sicht auf das Gebäude. Durch den gazeartigen weißen Vorhang wirkten die Polizisten wie geisterhafte Gestalten, die auf den Eingang zuschwebten.
Einer von ihnen griff nach der Tür.
Lincoln und der Junge waren in einer Pattsituation. Sie standen einander im Halbdunkel der Halle gegenüber; der Lichtstrahl des Notscheinwerfers zerschnitt von fern die Dunkelheit zwischen ihnen. Der Junge hielt immer noch die Pistole in der Hand, aber bisher hatte er nichts weiter getan, als damit herumzufuchteln, was jedesmal entsetzte Schreie der an der Wand zusammengedrängten Schüler auslöste. Er hatte noch nicht auf irgend jemanden gezielt, nicht einmal auf Lincoln, der die Hand an seiner Waffe hatte, bereit, sie zu ziehen. Zwei Mädchen standen direkt hinter dem Jungen, was jeden Schußversuch äußerst riskant machen würde. Lincoln verließ sich jetzt auf seinen Instinkt, und der sagte ihm, daß es immer noch möglich war, den Jungen zu überreden; sosehr er auch toben mochte, ein Teil von ihm rang um Beherrschung und brauchte nur eine ruhige Stimme, die ihn führte.
Langsam ließ Lincoln die Hand vom Halfter sinken. Er stand dem Jungen jetzt mit locker herabhängenden Armen gegenüber, in einer Position, die Neutralität vermittelte. Vertrauen. »Ich will dir nicht weh tun, mein Junge. Und ich glaube auch nicht, daß du jemandem weh tun willst. Da stehst du doch darüber. Das ist dir doch zu billig.«
Der Junge schwankte. Er schickte sich an, sich niederzubeugen und die Pistole auf den Boden zu legen, doch dann überlegte er es sich anders und richtete sich wieder auf. Er drehte sich zu seinen Klassenkameraden um, die in der Dunkelheit kauerten. »Ich bin nicht wie ihr. Ich bin anders als jeder von euch.«
»Dann beweise es, Junge«, sagte Lincoln. »Leg die Pistole hin.«
Der Junge wandte sich wieder zu ihm um. In diesem Moment schienen die Flammen seines Zorns ins Flackern zu geraten, schwächer zu werden. Er wurde zwischen Raserei und
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