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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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der von ihrer Körperwärme zu schmelzen begann und in kalten Bächen herabrann und in ihren Morgenmantel drang. Doch sie stand einfach da und hielt ihn umschlungen, selbst als sich der geschmolzene Schnee schon in Pfützen um ihre nackten Füße herum sammelte.
    »Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie.
    »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, nach Hause zu fahren.«
    »Dann bleib hier. Bleib bei mir.«
    Oben ließen sie ihre Kleider fallen und schlüpften ins Bett, das noch die Wärme ihres schlafenden Körpers ausstrahlte. Er war nicht gekommen, um mit ihr zu schlafen, nur um Trost zu suchen. Sie gab ihm beides, gewährte ihm die willkommene Erschöpfung, die ihn in den Schlaf sinken ließ.
    Als er erwachte, war der Himmel so strahlend blau, daß seine Augen schmerzten. Claire lag zusammengerollt neben ihm und schlief; ihr Haar ergoß sich in einem wirren Durcheinander von Locken über das Kopfkissen. Er sah graue Strähnen, die sich unter das Braun gemischt hatten, und der Anblick dieser silbrigen Vorboten des Alters war so unerwartet rührend, daß er blinzeln mußte, um die Tränen zurückzuhalten. Ein halbes Leben lang habe ich dich nicht gekannt, dachte er. Ein halbes Leben vergeudet – bis jetzt.
    Er zog sich an und sah dabei aus dem Fenster. Die nächtlichen Schneefälle hatten die Welt verwandelt. Sein Auto war unter einer lockeren Schneedecke begraben; es war nur noch ein formloser weißer Hügel. Die schneebedeckten Äste der Bäume senkten sich unter ihrer Last, und wo einmal der Vorgarten gewesen war, sah man jetzt ein strahlendes Feld von Diamanten, die in der Sonne funkelten.
    Ein Transporter kam die Straße hochgefahren und bog in Claires Auffahrt ein. Er war mit einem Schneepflug ausgerüstet, und zuerst nahm Lincoln an, Claire habe jemanden bestellt, der ihre Zufahrt räumen sollte. Dann stieg der Fahrer aus, und Lincoln sah die Uniform der Polizei von Tranquility. Es war Floyd Spear.
    Floyd watete zu dem Schneehügel herüber, unter dem Lincolns Wagen steckte, und wischte den Schnee vom Nummernschild. Dann blickte er fragend zum Haus auf. Jetzt wird die ganze Stadt erfahren, wo ich die Nacht verbracht habe.
    Lincoln ging nach unten und öffnete die Haustür im gleichen Moment, als Floyd die behandschuhte Hand hob, um zu klopfen. »Morgen«, sagte Lincoln.
    »Äh ... Morgen.«
    »Suchst du mich?«
    »Ja, ich – ich bin zu deinem Haus gefahren, aber du warst nicht da.«
    »Mein Pager war eingeschaltet.«
    »Ich weiß. Aber ich – na ja, ich wollte es dir nicht am Telefon sagen.«
    »Was?«
    Floyd betrachtete seine großen schneeverkrusteten Stiefel. »Schlechte Nachrichten, Lincoln. Es tut mir wirklich leid. Es geht um Doreen.«
    Lincoln sagte nichts. Und sonderbarerweise fühlte er auch nichts, als habe die kalte Luft, die er einatmete, irgendwie sein Herz betäubt und auch sein Gehirn. Floyds Stimme schien aus großer Entfernung zu ihm zu dringen, so daß er nur einen Teil davon verstehen konnte.
    »... haben ihre Leiche drüben auf der Slocum Road gefunden. Keine Ahnung, wie sie da hingekommen ist, so weit weg von zu Hause. Wir schätzen, daß es gestern abend passiert ist, zu der Zeit, als es den ganzen Schlamassel in der Schule gab. Aber das muß der Gerichtsmediziner feststellen.«
    Lincoln hatte große Mühe, die Worte hervorzubringen.
    »Wie ... wie ist es passiert?«
    Floyd zögerte, hob die Augen, um dann den Blick wieder zu senken. »Wenn du mich fragst, es war ein Unfall mit Fahrerflucht. Die Staatspolizei wird sich den Unfallort ansehen.«
    Floyds Schweigen verriet Lincoln, daß noch nicht alles gesagt war. Endlich blickte er wieder auf. Offensichtlich fielen ihm die nächsten Worte ungeheuer schwer. »Gestern abend gegen neun hat jemand in der Zentrale angerufen und gemeldet, daß ein betrunkener Fahrer auf der Slocum Road Schlangenlinien fährt – genau in dem Streckenabschnitt, wo wir Doreen gefunden haben. Der Anruf kam, als wir alle drüben bei der High School waren, also konnten wir niemanden hinschicken –«
    »Hat der Zeuge das Nummernschild gesehen?«
    Floyd nickte. Betreten fügte er hinzu: »Das Fahrzeug ist auf Dr. Elliot zugelassen.«
    Lincoln spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.
    Claires Auto?
    »Der Nummer nach muß es sich um einen braunen Chevy-Transporter handeln.«
    »Aber sie war nicht mit dem Transporter unterwegs! Ich habe sie gestern abend in der Schule gesehen. Sie ist mit diesem alten Subaru gefahren.«
    »Ich sage ja nur, daß der Zeuge Dr.

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