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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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und jammerte über ihre kostbare Lampe, die zu Bruch gegangen war. Amelia sah auf die Schulbücher hinab, die aufgeschlagen auf ihrem Bett lagen, auf die Liste der Aufgaben, die sie bis Montag erledigt haben wollte, und sie wußte, daß sie unmöglich fertig werden würde. Ich hätte lieber zum Tanz gehen sollen, dachte sie. Wenn ich schon meine Hausaufgaben nicht machen kann, könnte ich mich wenigstens heute abend ein bißchen amüsieren.
    Aber beim Tanz würde sie sich auch nicht amüsieren können, denn Noah Elliot war nicht dort.
    Sie hörte, wie eine weitere Lampe am Boden zerschellte, dann das Wehklagen ihrer Mutter: »Warum tust du denn nichts, Jack? Warum tust du nie irgend etwas?« Ein lautes Klatschen war zu hören, und dann fing Grace an zu heulen.
    Angewidert stopfte Amelia ihre Bücher in die Schultasche, schnappte sich ihre Jacke und lief aus dem Zimmer. Die anderen hörten nicht, daß sie die Treppe hinunterschlich. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf die Szene im Wohnzimmer. Der Fußboden war mit Glassplittern übersät; J. D. stand mit hochrotem Gesicht vor seinem Vater und seiner Stiefmutter und schnaufte wie ein wütender Bulle.
    Amelia schlüpfte aus der Haustür und in eine verschneite Nacht hinaus.
    Sie begann die Toddy Point Road entlangzugehen, und anfangs war es ihr gleich, wohin sie ging, sie wollte nur fort von ihnen. Als sie an der Anlegestelle vorbeikam, drang die Kälte allmählich durch ihre Kleider, und schmelzender Schnee rann ihr über das Gesicht. Sie mußte irgendwo hingehen; in einer Nacht wie dieser ziellos umherzuwandern war dumm und gefährlich. Aber es gab nur einen Ort, wo sie wirklich hingehen wollte; ein Haus, wo sie mit Sicherheit willkommen war.
    Allein der Gedanke daran ließ sie wieder Mut fassen. Sie beschleunigte ihren Schritt.
    Seit wann zeigen sich Schulmädchen in Reizwäsche in der Öffentlichkeit? fragte sich Lincoln, während er den Schülerinnen und Schülern zusah, die sich allmählich auf der Tanzfläche versammelten. Er erinnerte sich an die Schulfeste in seiner eigenen Jugend, an die Mädchen mit ihren glänzenden Haaren und ihren pastellfarbenen Kleidern, mit ihren Miniröcken aus Satin. Die Mädchen heute abend sahen aus wie eine Versammlung aufgedonnerter Vampire in ihren schwarzen Spitzenkleidchen mit Spaghettiträgern. Ein paar von ihnen trugen auch schwarzen Lippenstift, und mit ihren weißen Wintergesichtern wirkten sie auf Lincoln wie Leichen, die in der düsteren Sporthalle umherwandelten. Was die Jungen betraf – nun, Ohrringe sah man bei ihnen auch nicht seltener als bei den Mädchen.
    Pete Sparks, der neben ihm stand, sagte: »Man sollte meinen, sie holen sich eine Lungenentzündung in diesem Aufzug. Kaum zu glauben, daß ihre Mütter sie so aus dem Haus gelassen haben.«
    »Ich wette, ihre Mütter haben keine Ahnung«, bemerkte Lincoln. Er hatte viele der Mädchen in unauffälliger Kleidung ankommen sehen; dann waren sie kurz in der Toilette verschwunden und nur mit den spärlichsten Fetzen bekleidet wieder herausgekommen.
    Laute Musik dröhnte plötzlich mit einem treibenden Rhythmus aus den Lautsprechern. Schon nach wenigen Minuten verspürte Lincoln den dringenden Wunsch, diesem Getöse zu entfliehen.
    Er trat durch die Doppeltür der Halle hinaus in eine relativ stille Nacht.
    Es schneite nur leicht; silbrige Flocken tänzelten im Licht der Straßenlaterne. Er stellte sich unter den Überhang der Fassade und klappte den Mantelkragen hoch. Dankbar sog er die kühle, saubere Luft ein.
    Hinter ihm wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen, und er hörte Fern sagen: »Hast du auch schon genug?«
    »Ich mußte mal Luft schnappen.«
    Sie kam an seine Seite. Sie hatte ihren Mantel an, woraus zu schließen war, daß sie eine Weile hier draußen zu bleiben beabsichtigte.
    »Lincoln, hast du jemals das Gefühl, daß dir die ganze Verantwortung zuviel wird? Daß du am liebsten alles hinschmeißen und einfach weggehen würdest?«
    Er lachte bitter. »Mindestens zweimal am Tag.«
    »Und doch bist du immer noch hier.«
    Er sah sie an. »Und du auch.«
    »Nicht, weil ich es so will. Ich sehe bloß keine Alternativen.«
    Sie sah in das Schneegestöber hinaus und sagte leise:
    »Doreen hat dich nicht verdient. Jetzt nicht, und auch früher nicht.«
    »Es geht nicht darum, ob jemand sein Glück oder Pech verdient hat, Fern.«
    »Trotzdem hättest du es besser haben sollen. All die Jahre habe ich zugesehen, wie sie dich unglücklich gemacht hat,

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