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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Vernunft hin- und hergetrieben und suchte in Lincolns Augen verzweifelt nach einem Rettungsanker.
    Lincoln ging langsam auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Ich nehme sie jetzt«, sagte er ruhig.
    Der Junge nickte. Den Blick starr auf Lincoln gerichtet, hielt er ihm die Pistole hin.
    Die Tür wurde krachend aufgestoßen, und das hektische Stakkato von Schritten war zu hören. Lincoln sah nur ein verschwommenes Chaos von Bewegungen, als von allen Seiten Männer in den Saal stürmten. Kreischende Schüler rannten umher, suchten Deckung. Und im messerscharfen Strahl des Notscheinwerfers stand ein verwirrter Barry Knowlton, den Arm immer noch ausgestreckt, die Pistole in der Hand. In diesem Bruchteil einer Sekunde sah Lincoln mit unerträglicher Klarheit, was passieren würde. Er sah, wie der Junge sich zu den Cops umdrehte, die Pistole immer noch in der Hand haltend. Er sah die Männer, vollgepumpt mit Adrenalin, die Waffen im Anschlag.
    Lincoln schrie: »Nicht schießen!«
    Seine Stimme wurde von dem ohrenbetäubenden Knall übertönt.
    Das Krachen der Schüsse paralysierte die Menschenmenge auf der Straße für einen kurzen Moment. Dann reagierten alle gleichzeitig – die Umstehenden mit hysterischen Schreien, die Cops, indem sie auf das Gebäude zustürzten.
    Eine Lehrerin kam aus der Halle gelaufen und rief: »Wir brauchen einen Krankenwagen!«
    Claire mußte gegen einen Pulk von entsetzten Schülern ankämpfen, die aus der Tür strömten, um in das Gebäude zu gelangen. Zuerst sah sie nichts als ein konfuses Gewirr von Schatten, Männer in gepolsterten Kampfanzügen, Papiergirlanden, die gespenstisch durch die düstere Halle wehten. Die Luft roch nach Schweiß und Angst.
    Und Blut. Sie wäre fast in eine Lache davon getreten, als sie sich einen Weg durch den Knäuel von Polizisten bahnte. In ihrer Mitte kauerte Lincoln am Boden; er hielt den schlaffen Körper eines Jungen in den Armen.
    »Wer hat den Befehl gegeben?« fragte er. Seine Stimme war heiser vor Rage.
    »Officer Dolan meinte –«
    »Mark?« Lincoln sah Dolan an.
    »Es war eine gemeinsame Entscheidung«, rechtfertigte sich Dolan. »Chief Orbison und ich – wir wußten, daß der Junge bewaffnet war –«
    »Er wollte sich gerade ergeben!«
    »Das haben wir nicht gewußt!«
    »Verschwindet hier«, befahl Lincoln. »Los, weg mit euch!«
    Dolan drehte sich um und stieß Claire zur Seite, als er zur Tür hinausging.
    Sie kniete sich neben Lincoln. »Der Krankenwagen wartet schon draußen.«
    »Es ist zu spät«, sagte er.
    »Laß mich sehen, ob ich ihm helfen kann!«
    »Du kannst nichts mehr tun.« Er sah sie an; in seinen Augen glitzerten Tränen.
    Sie ergriff das Handgelenk des Jungen und konnte keinen Puls fühlen. Dann öffnete Lincoln die Arme, und sie sah Barrys Kopf – was davon übrig war.

21
    In dieser Nacht brauchte er sie. Nachdem Barry Knowltons Leiche abtransportiert worden war, nach der qualvollen Begegnung mit den erschütterten Eltern, war Lincoln dem Blitzlichtgewitter der Reporter ausgesetzt gewesen. Zweimal war er zusammengebrochen und hatte vor laufender Kamera geweint. Er schämte sich seiner Tränen nicht, und er ließ auch seiner Empörung über die Art und Weise, wie die Krise gelöst worden war, freien Lauf. Ihm war klar, daß er damit den Boden für ein Ermittlungsverfahren gegen seinen eigenen Arbeitgeber, die Stadt Tranquility, bereitete; doch es war ihm gleich. Er wußte nur, daß ein Junge abgeknallt worden war wie ein Hirsch im November, und irgend jemand sollte dafür bezahlen.
    Während er durch Galaxien aus Schneeflocken dahinfuhr, wurde ihm bewußt, daß er den Gedanken nicht ertragen konnte, einfach nach Hause zu fahren und die Nacht, wie so viele andere Nächte, allein zu verbringen.
    Statt dessen fuhr er zu Claires Haus.
    Als er sich durch den knietiefen Schnee vom Wagen zum Haus kämpfte, fühlte er sich wie irgendein müder Pilger auf seinem mühevollen Weg zum Asyl. Er stieg die Stufen hoch und klopfte mehrmals an die Tür. Nichts geschah, und er wurde plötzlich von Verzweiflung erfaßt bei dem Gedanken, daß sie nicht zu Hause war, daß dieses Haus leer war. Daß er die Nacht ohne sie würde durchstehen müssen.
    Dann, endlich, ging oben ein Licht an; der warme Schein drang durch den fallenden Schnee zu ihm herunter. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und sie stand vor ihm.
    Er trat ein. Sie sprachen beide kein Wort. Sie breitete einfach die Arme aus, nahm ihn auf. Er war mit Schnee bestäubt,

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