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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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weichen.
    Drinnen war Vera, ihre Sprechstundenhilfe, gerade am Telefon; sie schnatterte unentwegt und klimperte mit ihren Armreifen, während sie im Terminkalender blätterte. Veras Frisur war wie ihre Persönlichkeit: wild, wirr und ein wenig zerzaust. Sie hielt die Hand über die Sprechmuschel und sagte zu Claire: »Mairead Temple ist im Sprechzimmer. Halsweh.«
    »Wie sieht der Rest des Nachmittags aus?«
    »Noch zwei, und das war’s dann.«
    Das machte insgesamt nur sechs Patienten für diesen Tag, dachte Claire besorgt. Seit die Sommertouristen abgereist waren, war es in ihrer Praxis merklich ruhiger geworden. Sie war die einzige niedergelassene Ärztin in Tranquility, und dennoch fuhren die meisten Einheimischen die zwanzig Meilen bis Two Hills, wenn sie medizinischen Beistand brauchten. Sie wußte, weshalb: Nicht viele in der Stadt glaubten, daß sie einen strengen Winter überstehen würde, und die Menschen sahen nicht ein, warum sie sich an einen Doktor gewöhnen sollten, der im nächsten Herbst schon nicht mehr dasein würde.
    Mairead Temple war eine der wenigen Patientinnen, die Claire hatte an Land ziehen können, aber das lag nur daran, daß Mairead kein Auto besaß. Sie war eine Meile weit zu Fuß in die Stadt gegangen, und jetzt, als sie auf dem Untersuchungstisch saß, ging ihr Atem wegen des feuchten Wetters immer noch ein wenig pfeifend. Mairead war einundachtzig und hatte weder Zähne noch Mandeln. Sie hatte auch nicht viel Respekt vor Autoritätspersonen.
    Claire untersuchte Maireads Hals und meinte: »Sieht tatsächlich ziemlich rot aus.«
    »Das hätte ich Ihnen auch sagen können«, antwortete Mairead.
    »Aber Sie haben kein Fieber. Und Ihre Lymphknoten sind nicht geschwollen.«
    »Tut gemein weh. Kann kaum schlucken.«
    »Ich mache einen Abstrich. Morgen wissen wir dann, ob es Angina ist. Aber ich denke, es ist nur ein Virus.«
    Mairead beobachtete sie mit kleinen, mißtrauischen Augen, als Claire einen Tupfer auspackte. »Dr. Pomeroy hat mir immer Penizillin gegeben.«
    »Antibiotika wirken nicht bei einem Virus, Mrs. Temple.«
    »Hat mir immer geholfen, dieses Penizillin.«
    »Sagen Sie ›ah‹!«
    Mairead würgte, als Claire ihren Rachen abtupfte. Sie glich einer Schildkröte, den ledrigen Hals ausgestreckt, mit zahnlosem Mund nach Luft schnappend. Mit tränenden Augen sagte sie: »Pomeroy hatte jede Menge Berufserfahrung. Wußte immer, was er tat. Ihr jungen Ärzte hättet alle noch das eine oder andere von ihm lernen können.«
    Claire seufzte. Würde sie immer mit Dr.Pomeroy verglichen werden? Sein Grabstein hatte einen Ehrenplatz auf dem Friedhof an der Mountain Street. Claire sah seine kryptischen Aufzeichnungen in den alten Krankenakten, und manchmal spürte sie seinen Geist, wie er ihr bei ihren Visiten auf Schritt und Tritt folgte. Sicherlich war es Pomeroys Geist, der jetzt zwischen sie und Mairead trat. Er mochte längst tot sein, aber für die Leute würde er immer der Stadtdoktor bleiben.
    »Hören wir uns mal Ihre Lungen an«, sagte Claire.
    Mairead grunzte und begann, an ihren Kleidern zu zerren. Es war kalt draußen, und sie hatte sich entsprechend angezogen. Ein Pulli, ein Baumwollhemd, Thermounterwäsche und ein BH mußten aus dem Weg geräumt werden, bevor Claire das Stethoskop an ihre Brust legen konnte.
    Durch das Pochen von Maireads Herz hörte Claire ein entferntes Klopfen und blickte auf.
    Vera steckte den Kopf durch die Tür. »Anruf auf Leitung zwei.«
    »Können Sie eine Nachricht entgegennehmen?«
    »Es ist Ihr Sohn. Er will nicht mit mir reden.«
    »Entschuldigen Sie mich, Mrs. Temple«, sagte Claire und ging in ihr Büro, um den Anruf anzunehmen.
    »Noah?«
    »Du mußt mich abholen. Ich werde den Bus verpassen.«
    »Aber es ist erst Viertel nach zwei. Der Bus ist noch nicht weg.«
    »Ich muß nachsitzen. Ich kann erst um halb vier weg.«
    »Warum? Was ist passiert?«
    »Ich mag jetzt nicht darüber reden.«
    »Ich werde es sowieso erfahren, Schatz.«
    »Nicht jetzt , Mom!« Sie hörte ihn schniefen, hörte die Tränen in seiner Stimme. »Bitte. Kannst du mich nicht ganz einfach abholen kommen?«
    Die Verbindung brach ab. Gequält von der Vorstellung ihres weinenden Sohnes, der in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte, wählte Claire rasch die Nummer der Schule. Doch als sie die Sekretärin endlich erreicht hatte, war Noah schon nicht mehr im Büro, und Miss Cornwallis war nicht zu sprechen.
    Claire hatte noch eine Stunde, um Mairead Temple abzufertigen, zwei

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