Trügerische Ruhe
weitere Patienten zu empfangen und zur Schule zu fahren.
Gestreßt und besorgt wegen Noahs Situation, kehrte sie in das Sprechzimmer zurück und sah zu ihrer Verärgerung, daß Mairead sich schon wieder angezogen hatte.
»Ich bin noch nicht ganz fertig mit der Untersuchung«, sagte Claire.
»Sind Sie wohl«, brummte Mairead.
»Aber Mrs. Temple –«
»Bin wegen Penizillin gekommen. Bin nicht gekommen, um mir einen Q-Tip in den Hals stecken zu lassen.«
»Wären Sie so freundlich und würden sich einfach hinsetzen? Ich weiß, daß ich die Dinge etwas anders angehe als Dr.Pomeroy, aber das hat seinen Grund. Antibiotika richten gegen einen Virus nichts aus, und sie können Nebenwirkungen haben.«
»Bei mir haben die nie Nebenwirkungen gehabt.«
»Es dauert nur einen Tag, bis das Ergebnis des Abstrichs da ist. Wenn es eine Halsentzündung ist, gebe ich Ihnen die Medizin.«
»Muß den ganzen Weg in die Stadt zu Fuß gehen. Brauch ich einen halben Tag für.«
Plötzlich verstand Claire, worum es hier wirklich ging. Jeder Labortest, jedes neue Rezept bedeutete einen Fußmarsch von einer Meile für Mairead, und dann noch einmal eine Meile Heimweg.
Mit einem Seufzer zog sie einen Rezeptblock aus der Schublade. Und zum erstenmal während dieses Besuchs sah sie Maireads Lächeln. Ein befriedigtes, triumphierendes Lächeln.
Isabel saß still auf der Couch. Sie hatte Angst, sich zu bewegen, Angst, auch nur ein Wort zu sagen.
Mary Rose war sehr, sehr wütend. Ihre Mutter war noch nicht zu Hause, und Isabel war allein mit ihrer Schwester. Sie hatte Mary Rose noch nie so erlebt: Sie lief auf und ab wie ein Tiger im Zoo und schrie sie an. Sie, Isabel! Mary Rose war so wütend, daß ihr Gesicht ganz faltig und häßlich wurde, gar nicht mehr wie Prinzessin Aurora, sondern eher wie die böse Königin. Das war nicht ihre Schwester. Das war ein böser Mensch, der im Körper ihrer Schwester steckte. Isabel vergrub sich noch tiefer in die Kissen und sah verstohlen zu, wie der böse Mensch im Körper von Mary Rose durch das Wohnzimmer streifte und vor sich hin murmelte: Nie kann ich irgendwo hingehen oder irgendwas machen – wegen dir! Sitz die ganze Zeit zu Hause fest. Ein Babysitter-Sklave! Ich wollte, du wärst tot. Ich wollte, du wärst tot.
»Aber ich bin doch deine Schwester!« wollte Isabel jammern, obwohl sie sich nicht traute, auch nur einen Muckser zu machen. Sie begann zu weinen; stille Tränen tropften auf die Kissen und hinterließen große nasse Flecken. O nein! Mary Rose würde auch darüber wütend sein. Isabel wartete, bis ihre Schwester ihr den Rücken zudrehte, und glitt dann leise von der Couch herunter und huschte in die Küche. Sie würde sich hier verstecken und Mary Rose aus dem Weg gehen, bis ihre Mutter zurückkam. Sie schlüpfte hinter einen Küchenschrank und setzte sich auf die kalten Fliesen, die Knie an die Brust gezogen. Wenn sie sich nur still verhielte, würde Mary Rose sie nicht finden. Sie konnte die Uhr an der Wand sehen, und sie wußte, daß ihre Mutter nach Hause kommen würde, wenn der kleine Zeiger auf die Fünf zeigte. Sie mußte dringend Pipi machen, aber sie würde es einfach aushalten müssen, weil sie hier sicher war.
Dann begann Rocky, der Papagei, zu kreischen. Sein Käfig war nur ein paar Meter entfernt am Fenster. Sie blickte zu ihm auf und flehte ihn stumm an, doch ruhig zu sein, aber Rocky war nicht besonders helle und kreischte sie weiter an. Ihre Mutter hatte oft gesagt: »Rocky hat nur ein Spatzenhirn«, und das stellte er jetzt unter Beweis durch all den Lärm, den er machte.
Sei still! Sei doch bitte still, sonst wird sie mich finden!
Zu spät. Knarrende Schritte näherten sich der Küche. Eine Schublade wurde aufgerissen, und Besteck fiel klirrend zu Boden. Mary Rose warf mit Gabeln und Löffeln um sich. Isabel kugelte sich zusammen und preßte sich noch dichter an den Schrank.
Rocky, der Verräter, glotzte sie an und schrie drauflos, als wolle er es herausposaunen: »Da ist sie! Da ist sie!«
Jetzt kam Mary Rose in Isabels Blickfeld, aber sie sah sie nicht an. Ihre Augen waren auf Rocky geheftet. Sie ging zum Käfig hin und sah den Papagei an, der in einem fort kreischte. Sie öffnete die Käfigtür, und ihre Hand schoß hinein. Rocky flatterte aufgeregt mit den Flügeln, eingehüllt in eine Wolke aus Federn und Vogelfutter. Sie faßte den sich sträubenden Vogel, den zappelnden hellblauen Federball, und holte ihn aus dem Käfig. Mit einer raschen Drehung brach
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