Trügerische Ruhe
Monte-Cristo-Sandwich.«
»Hal-loo! Joe ist aber gar nicht wählerisch heute!« sagte Ned Tibbetts.
»Und Sie, Doc?«
»Ein Thunfisch-Sandwich und einen Teller Pilzsuppe, bitte.«
Während Claire ihren Lunch aß, hörte sie, wie sich die Männer darüber unterhielten, wem der Knochen wohl gehört haben könnte. Es war unmöglich, ihnen nicht zuzuhören; drei von ihnen trugen Hörgeräte. Die meisten von ihnen konnten sich sechzig Jahre zurückerinnern, und sie spielten sich die verschiedenen Möglichkeiten wie Federbälle zu. Vielleicht war es das junge Mädchen, das von der Bald-Rock-Klippe gestürzt war. Nein, sie haben ihre Leiche gefunden, erinnert ihr euch? Vielleicht war es die Kleine von Jewetts – ist sie nicht mit sechzehn von zu Hause weggelaufen? Ned widersprach; er hatte von seiner Mutter gehört, daß sie in Hartford lebte; das Mädchen müßte inzwischen über sechzig sein, wahrscheinlich schon Großmutter. Fred Moody sagte, seine Frau Florida hätte gemeint, das tote Mädchen müßte von auswärts sein – eine von den Sommerleuten. In Tranquility behielt man die eigenen Leute im Auge, und wenn ein Kind aus dem Ort verschwunden wäre, würde sich doch irgendwer daran erinnern, oder?
Nadine schenkte Claire Kaffee nach. »Die finden auch kein Ende, was?« meinte sie. »Man könnte meinen, sie planen den Weltfrieden.«
»Wie kommt es eigentlich, daß sie soviel darüber wissen?«
»Joe ist der Cousin zweiten Grades von Floyd Spear, der bei der Polizei arbeitet.« Nadine begann, die Theke mit langen, forschen Bewegungen abzuwischen; ein leichter Chlorgeruch blieb zurück. »Angeblich soll irgend so ein Knochenexperte heute von Bangor rüberkommen. Wenn Sie mich fragen, das muß jemand von diesen Sommerleuten gewesen sein.«
Das war natürlich die naheliegende Erklärung – jemand von den Sommerleuten. Ob es ein ungelöstes Verbrechen oder eine nicht identifizierte Leiche war, immer mußte diese Allzweckantwort herhalten. Jedes Jahr im Juni vervierfachte sich die Bevölkerung von Tranquility, wenn die reichen Familien aus Boston und New York ankamen, um hier ihre Ferien am See zu verbringen. In dieser friedlichen Sommerkolonie aalten sie sich dann auf den Veranden ihrer Häuschen direkt am Seeufer, während ihre Kinder im Wasser herumtollten. In den Geschäften von Tranquility klingelten fröhlich die Kassen von den Dollars, die das Sommervolk in die regionale Wirtschaft pumpte. Irgend jemand mußte ja ihre Bungalows reinigen, ihre schicken Autos reparieren und ihre Lebensmittel in Tüten packen. Die Einnahmen dieser wenigen Monate reichten aus, um die örtliche Bevölkerung einen Winter lang zu ernähren.
Das Geld machte die Besucher erst erträglich. Das und die Tatsache, daß sie jedesmal im September, wenn die Blätter fielen, wieder verschwanden und die Stadt den Leuten überließen, die hierhergehörten.
Claire beendete ihr Mittagessen und ging zu Fuß zur Praxis zurück.
Die Hauptstraße von Tranquility folgte der Biegung des Seeufers. Am oberen Ende der Elm Street befand sich Joe Bartletts Tankstelle mit Autowerkstatt, die er zweiundvierzig Jahre lang geführt hatte, bevor er sich aufs Altenteil zurückzog. Jetzt waren es die beiden Mädchen seiner Tochter, die die Zapfsäulen bedienten und Öl wechselten. Ein Schild an der Werkstatt verkündete stolz:
»Eigentümer und Betreiber: Joe Bartlett und Enkelinnen«. Claire hatte das Schild immer gemocht; sie fand, daß es sehr für Joe Bartlett sprach.
An der Post bog die Elm Street in nördlicher Richtung ab. Der Nordwestwind begann bereits über den See hereinzuwehen. Er blies in Böen durch die schmalen Lücken zwischen den Häusern, und wenn man die Straße entlangging, war es, als ob man eine Reihe eisiger Windkanäle passierte. An einem Fenster über dem Kramladen saß eine schwarze Katze und blickte auf sie herab, als ob sie über die Dummheit der Wesen nachsänne, die sich bei diesem Wetter vor die Tür wagten.
Gleich neben dem Laden war das gelbe viktorianische Haus, in dem Claire ihre Praxis hatte. Früher hatte das Gebäude Dr.Pomeroy als Arbeitsstätte und Wohnhaus gedient. In der Tür war immer noch die alte Milchglasscheibe mit der Aufschrift ARZTPRAXIS. Obwohl der Name Dr. James Pomeroy ersetzt worden war durch Praxis Dr. Claire Elliot, bildete sie sich manchmal ein, sie könne den Schatten des alten Namens sehen, der wie ein Geist in der Scheibe zurückgeblieben war und sich weigerte, der neuen Inhaberin zu
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