Trügerische Ruhe
Mist bauen. Also können wir ruhig wieder zurückgehen.«
Sie bog in die Einfahrt ein, parkte den Wagen und drehte sich zu ihm um. »Du mußt nicht glauben, daß wir nach Baltimore zurückgehen, nur weil du Mist baust. Entweder bekommst du dein Leben in den Griff, oder du läßt es bleiben. Du hast die Wahl.«
»Wann hab ich denn je die Wahl?«
»Jederzeit. Und ich möchte, daß du von jetzt an die richtige Wahl triffst.«
»Du meinst die Wahl, die dir paßt.« Er sprang aus dem Wagen.
»Noah. Noah!«
»Laß mich doch in Ruhe!« schrie er. Er knallte die Tür zu und stapfte auf das Haus zu.
Sie ging ihm nicht nach. Sie saß nur da und hielt das Lenkrad umklammert, zu erschöpft und zu aufgewühlt, um sich in diesem Moment mit ihm auseinanderzusetzen. Sie brauchten beide Zeit, um sich zu besinnen und ihrer Gefühle Herr zu werden. Sie bog in die Toddy Point Road ein und fuhr am Ufer des Locust Lake entlang. Autofahren als Therapie.
Wie war ihr doch alles so einfach erschienen, als Peter noch am Leben war. Da hatte ein Silberblick von ihm genügt, um ihren Sohn zum Lachen zu bringen. Damals, als sie noch glücklich waren – als ihre Welt noch heil war.
Wir sind nicht mehr glücklich gewesen, seit du gestorben bist, Peter. Ich vermisse dich. Ich vermisse dich jeden Tag, jede Stunde. Jede Minute meines Lebens.
Die Lichter der Ferienhäuser am See schimmerten durch ihre Tränen, während sie weiterfuhr. Sie fuhr um die Biegung herum, an den Boulders vorbei, und plötzlich waren die Lichter nicht mehr weiß, sondern blau, und sie schienen zwischen den Bäumen zu tanzen.
Es war ein Streifenwagen, und er stand auf Rachel Sorkins Grundstück.
Sie brachte den Transporter in der Einfahrt zum Stehen. Drei Fahrzeuge standen im Hof, zwei Streifenwagen und ein weißer Lieferwagen. Ein State Trooper von der Polizei des Staates Maine unterhielt sich auf der Veranda mit Rachel. Die Lichtkegel von Taschenlampen flackerten zwischen den Bäumen hin und her.
Claires Blick fiel auf Lincoln Kelly, der aus dem Wald hervortrat. Sie erkannte seine Silhouette, als das Licht eines Scheinwerfers ihn traf. Lincoln war nicht sehr hoch gewachsen, aber von robuster Gestalt; er hielt sich auffallend gerade und bewegte sich mit einer ruhigen Sicherheit, wodurch er größer wirkte, als er tatsächlich war. Er blieb stehen, um sich mit dem State Trooper zu unterhalten; dann bemerkte er Claire und kam quer über den Hof auf ihren Transporter zu.
Sie ließ das Fenster herunter. »Haben Sie noch mehr Knochen gefunden?« fragte sie.
Er beugte sich herab und lehnte den Arm auf die Wagentür. Er roch nach Wald: Kiefernnadeln, Erde und Rauch von Holzfeuern. »Ja. Die Hunde haben uns zu dem Bachbett geführt«, sagte er. »Das Ufer ist im Frühjahr durch die ganzen Überschwemmungen ziemlich stark ausgewaschen worden. Dadurch wurden die Knochen freigelegt. Aber ich fürchte, die wilden Tiere haben die meisten davon schon in den Wäldern verstreut.«
»Geht die Gerichtsmedizin von einem Tötungsdelikt aus?«
»Die Gerichtsmedizin ist nicht mehr zuständig für den Fall. Die Knochen sind zu alt. Jetzt ist eine forensische Anthropologin damit betraut – möchten Sie sich mit ihr unterhalten? Sie heißt Dr. Overlock.«
Er öffnete die Wagentür, und Claire stieg aus. Zusammen gingen sie auf den düsteren Wald zu. Aus der Dämmerung war schnell finstere Nacht geworden. Der Boden war uneben und mit einer dicken Schicht toten Laubs bedeckt, und das Unterholz brachte Claire ins Straucheln. Lincoln streckte die Hand aus, um ihr Halt zu geben. Er schien mühelos im Dunkeln seinen Weg zu finden, und der Tritt seiner schweren Stiefel war fest und sicher.
Zwischen den Bäumen waren Lichter zu sehen, und Claire hörte Stimmen und das Plätschern von Wasser. Dann trat sie mit Lincoln aus dem Wald heraus und fand sich am Ufer des Baches. Eine Strecke des erodierten Ufers war mit Polizeiband abgesperrt, und auf einer Plane lagen die bereits ausgegrabenen schlammverkrusteten Knochen. Claire erkannte ein Schienbein und einige Fragmente, die anscheinend zu einem Becken gehörten. Zwei Männer mit Gummistiefeln und Stirnlampen standen knietief im Wasser und gruben vorsichtig im Schlamm des Bachufers.
Lucy Overlock stand etwas abseits zwischen den Bäumen und sprach in ein Handy. Sie wirkte selbst ein wenig wie ein Baum, groß und kräftig, und sie trug Waldarbeiterkleidung, Jeans und schwere Stiefel. Ihr fast gänzlich ergrautes Haar war zu einem praktischen
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