Trügerische Ruhe
Pferdeschwanz gebunden. Sie sah Lincoln, winkte ihm mit einem gequälten Lächeln zu und setzte ihr Gespräch fort.
»... noch keine Artefakte, nur die Skelettreste. Aber ich versichere Ihnen, das hier fällt nicht unter das Gesetz über Indianerfriedhöfe. Der Schädel stammt meiner Meinung nach von einem Weißen und nicht von einem Indianer. Wie bitte – woher ich das weiß? Es ist offensichtlich! Das Schädeldach ist zu schmal, und der Gesichtsdurchmesser ist auch zu gering. Nein, es ist natürlich nicht absolut sicher. Aber der Fundort ist Locust Lake, und hier gab es nie eine Penobscot-Siedlung. Der Stamm würde noch nicht einmal in dem See fischen, so tabu ist die Gegend.« Sie verdrehte die Augen zum Himmel und schüttelte den Kopf. »Gewiß können Sie die Knochen selbst untersuchen. Aber wir müssen jetzt graben, bevor die Tiere noch mehr Schaden anrichten, sonst ist das Ganze umsonst gewesen.« Sie beendete das Gespräch und sah Lincoln frustriert an. »Ein Gerangel um die Zuständigkeit.«
»Wegen der Knochen?«
»Es ist dieses NAGPRA-Gesetz. Schutz indianischer Begräbnisstätten. Jedesmal, wenn wir irgendwelche Überreste finden, verlangen die Stämme eine hundertprozentige Bestätigung, daß es sich nicht um Gräber ihrer Ahnen handelt. Fünfundneunzig Prozent reichen ihnen nicht.« Ihr Blick wanderte zu Claire, die näher gekommen war, um sich vorzustellen.
»Lucy Overlock«, sagte Lincoln. »Und das ist Claire Elliot. Die Ärztin, die den Oberschenkelknochen gefunden hat.«
Die beiden Frauen gaben sich die Hand, eine sachliche Begrüßung unter Expertinnen, die ein grausiges Geschäft zusammenführte.
»Es war ein Glück, daß gerade Sie den Knochen gefunden haben«, sagte Lucy. »Einem anderen wäre wohl kaum aufgefallen, daß er von einem Menschen stammt.«
»Um ehrlich zu sein, ich war selbst nicht völlig sicher«, erwiderte Claire. »Ich bin froh, daß ich nicht wegen eines Kuhknochens die halbe Stadt in Bewegung gesetzt habe.«
»Es ist mit Sicherheit keine Kuh.«
Einer der Männer am Bach rief plötzlich: »Wir haben noch was gefunden!« Lucy sprang sogleich in das knietiefe Wasser und richtete ihre Taschenlampe auf die Uferböschung.
»Da«, sagte der Mann vom Grabungsteam und senkte die Spitze seiner Kelle behutsam in die Erde. »Sieht aus, als wäre da noch ein Schädel.«
Lucy streifte sich ein Paar Handschuhe über. »Okay, dann wollen wir ihn mal ganz sachte rausholen.«
Er schob die Kelle noch etwas weiter hinein und lockerte vorsichtig die verkrustete Erde. Der Gegenstand fiel in Lucys behandschuhte Hände. Sie kletterte ans Ufer und kniete auf der Plane nieder, um ihren Schatz zu begutachten.
Es war tatsächlich ein zweiter Schädel. Im Licht des Scheinwerfers betrachtete Lucy ihn sorgfältig von allen Seiten und untersuchte die Zähne.
»Auch minderjährig. Keine Weisheitszähne«, stellte sie fest.
»Ich sehe kariöse Backenzähne, hier und hier, aber keine Füllungen.«
»Also keinerlei Zahnbehandlung«, sagte Claire.
»Ja, das hier sind alte Knochen. Gut für Sie, Lincoln. Sonst wäre das hier nämlich ein ungelöstes Tötungsdelikt.«
»Wieso sagen Sie das?«
Sie drehte den Schädel um, so daß das Licht auf die Schädeldecke fiel. Von einer Einbuchtung in der Mitte strahlten Risse nach allen Richtungen aus wie bei einem weichgekochten Ei, das man mit einem Löffel anschlägt.
»Ich denke, es gibt keinen Zweifel«, sagte sie. »Dieses Kind ist eines gewaltsamen Todes gestorben.«
Das Zirpen eines Pagers schreckte sie alle aus ihrem Schweigen auf. In der Stille des Waldes wirkte dieses elektronische Geräusch befremdend, ja beunruhigend. Claire und Lincoln griffen beide automatisch nach ihren Piepsern.
»Es ist meiner«, sagte Lincoln nach einem Blick auf die Anzeige. Ohne ein weiteres Wort machte er sich auf den Weg durch den Wald zu seinem Streifenwagen. Sekunden später sah Claire das Blaulicht durch die Bäume blitzen, als der Wagen davonraste.
»Muß ein Notfall sein«, sagte Lucy.
Officer Pete Sparks war schon vor Ort und versuchte gerade, den alten Vern Fuller zu überreden, seine Schrotflinte wegzulegen. Die Nacht war hereingebrochen, und das erste, was Lincoln sah, waren zwei wild gestikulierende Silhouetten im flackernden Blaulicht von Petes Streifenwagen. Lincoln parkte seinen Wagen in Verns Einfahrt und stieg vorsichtig aus. Er hörte das Blöken von Schafen und das nervöse Gackern von Hühnern. Die normalen Geräusche eines Bauernhofs.
»Sie
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