Trügerische Ruhe
Der Froschfuzzi – so nannte ihn Noah.
Ihr Boot trieb noch näher ans Land, und sie sah Max’ Glasbehälter am Ufer aufgereiht. »Wie geht’s mit Ihrer Froschsammlung voran?«
»Es wird allmählich zu kalt. Sie ziehen sich ins tiefe Wasser zurück.«
»Haben Sie noch mehr sechsbeinige Exemplare gefunden?«
»Immerhin eins diese Woche. Allmählich mache ich mir wirklich Sorgen um diesen See.«
Ihr Ruderboot hatte jetzt das Ufer erreicht und lief mit einem Ruck auf die Schlammbank auf.
Max’ spindeldürre Silhouette ragte über ihr auf. Das Mondlicht spiegelte sich in seinen Brillengläsern.
»Es ist die gleiche Geschichte in allen Seen hier im Norden«, sagte er. »Mißbildungen bei Amphibien, unerklärliches Massensterben.«
»Was haben die Proben ergeben, die Sie letzte Woche entnommen haben?«
»Ich warte noch auf die Ergebnisse. Das kann Monate dauern.« Er hielt inne und sah sich um. Von irgendwoher kam ein piepsendes Geräusch. »Was ist das?«
Claire seufzte. »Mein Pager.« Sie hatte fast vergessen, daß er immer noch an ihrem Gürtel hing. Auf der Leuchtanzeige erschien eine örtliche Telefonnummer.
»Bis zu Ihrem Haus haben Sie ein gutes Stück zu rudern«, meinte er. »Warum benutzen Sie nicht mein Telefon?«
Sie rief von seiner Küche aus an und starrte dabei die Einmachgläser auf der Ablage an. Das da waren keine eingelegten Gurken. Sie nahm eines der Gläser in die Hand, und ein einzelnes Auge glotzte sie an. Der Frosch war merkwürdig blaß, im Farbton wie menschliche Haut, mit purpurfarbenen Flecken gesprenkelt.
Beide Hinterbeine gabelten sich, so daß er insgesamt vier Schwimmflossen hatte. Sie warf einen Blick auf das Etikett: »Locust Lake, 10. November.« Ein Schauer überlief sie, als sie das Glas wieder abstellte.
Eine Frau war am Apparat. Sie sprach mit schwerer Zunge, offenbar war sie betrunken.
»Hallo? Wer ist da?«
»Hier spricht Dr. Elliot. Haben Sie mich angepiepst?«
Claire zuckte zusammen, als der Hörer am anderen Ende auf den Tisch geknallt wurde. Sie hörte Schritte, dann erkannte sie Lincoln Kellys Stimme. Er sprach zu der Frau.
»Doreen, kann ich bitte mein Telefon haben?«
»Wer sind all diese Frauen, die dich immer anrufen?«
»Gib mir das Telefon!«
»Du bist doch gar nicht krank! Wieso ruft dann ein Doktor an?«
»Ist das Claire Elliot?«
»Ah, Claire! Du nennst sie schon beim Vornamen!«
»Doreen, ich fahre dich gleich nach Hause. Jetzt laß mich mit ihr sprechen.«
Endlich kam er an den Apparat. Er klang verlegen. »Claire, sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Hören Sie, es tut mir leid, was da gerade passiert ist.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte sie und dachte: Sie haben schon genug Sorgen in Ihrem Leben.
»Lucy Overlock hat vorgeschlagen, daß ich Sie anrufe. Sie hat die Grabung abgeschlossen.«
»Irgendwelche interessanten Erkenntnisse?«
»Ich denke, die meisten kennen Sie bereits. Das Begräbnis liegt mindestens hundert Jahre zurück. Die Überreste stammen von zwei Kindern. Beide weisen deutliche Spuren von Verletzungen auf.«
»Also ein altes Tötungsdelikt.«
»Offensichtlich. Sie wird die Einzelheiten morgen in ihrem Seminar vortragen. Vielleicht ist es mehr, als Sie sich anzuhören gewillt sind, aber sie meinte jedenfalls, ich sollte Sie dazu einladen. Sie haben ja schließlich den ersten Knochen entdeckt.«
»Wo findet das Seminar statt?«
»Im Labor des Museums in Orono. Ich fahre hin – wenn Sie möchten, kann ich Sie gerne mitnehmen. Ich fahre gegen zwölf Uhr los.«
Im Hintergrund war Doreens weinerliche Stimme zu hören. »Aber morgen ist Samstag! Seit wann arbeitest du samstags?«
»Doreen, laß mich dieses Gespräch zu Ende führen.«
»Es ist doch immer das gleiche! Dauernd hast du zuviel zu tun! Bist nie für mich da ...«
»Zieh deine Jacke an und setz dich ins Auto. Ich fahre dich nach Hause.«
»Verdammt, ich kann selbst fahren!« Eine Tür wurde zugeschlagen.
»Doreen!« rief Lincoln. »Gib mir sofort die Autoschlüssel zurück!«
Dann war er wieder am Telefon; seine Stimme klang gehetzt.
»Ich muß gehen. Sehen wir uns morgen?«
»Um zwölf. Ich warte.«
8
»Doreen versucht es ja«, sagte Lincoln, die Augen fest auf die Straße gerichtet. »Sie gibt sich wirklich Mühe. Aber es ist nicht leicht für sie.«
»Für Sie auch nicht, denke ich«, sagte Claire.
»Nein, es ist für uns beide sehr schwierig. Schon seit Jahren.«
Es hatte geregnet, als sie in Tranquility losgefahren waren.
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