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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ich mich auch drauf.«
    »Du hast keine Ahnung, wie der Winter hier ist.«
    »Wie ist er denn?«
    Sie blickte über den See, und in ihrer Miene lag fast so etwas wie Furcht. »In ein paar Wochen fängt es an zu frieren. Zuerst sind da nur die Eisschollen am Ufer. Im Dezember ist dann der ganze See zugefroren – so dick, daß man über das Eis gehen kann. Und dann geht es los mit diesen Geräuschen in der Nacht.«
    »Was für Geräusche?«
    »Als ob jemand stöhnt. Wie ein Mensch, der Schmerzen hat.«
    Er begann zu lachen, aber dann sah sie ihn an, und er verstummte.
    »Du glaubst mir nicht, was?« sagte sie. »Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und denke, ich habe einen Alptraum. Aber es ist nur der See, der diese fürchterlichen Geräusche macht.«
    »Wie ist denn das möglich?«
    »Mrs. Horatio sagt ...« Sie brach ab, als ihr einfiel, daß Mrs. Horatio ja tot war. Sie sah wieder auf das Wasser. »Es hat mit dem Eis zu tun. Das Wasser friert und dehnt sich aus. Es drückt und drückt gegen die Ufer, es versucht zu entkommen, aber es steckt in der Falle. Und dann hört man dieses Stöhnen. Es ist der Druck, der sich aufbaut und immer stärker wird, bis das Eis es nicht mehr aushält. Bis es sich schließlich selbst zerquetscht.« Sie fügte leise hinzu: »Kein Wunder, daß es so schreckliche Geräusche macht.«
    Er versuchte, sich vorzustellen, wie der See im Januar aussehen würde. Schnee, der sich an den Ufern auftürmte, das Wasser verwandelt in eine einzige schimmernde Eisfläche. Aber heute schien die Sonne hell in seine Augen, und bei der Wärme, die der Felsen ausstrahlte, kamen ihm nur Sommerbilder in den Sinn.
    »Wo gehen eigentlich die Frösche hin?«
    Sie sah ihn an. »Was?«
    »Die Frösche. Und die Fische und so. Ich meine, die Enten fliegen alle nach Süden, die sehen zu, daß sie hier wegkommen. Aber was machen die Frösche? Glaubst du, sie frieren einfach ein, wie grüne Eiskugeln?«
    Er hatte sie zum Lachen bringen wollen, und er sah erfreut, daß immerhin ein Lächeln auf ihrem Gesicht erschien. »Nein, sie werden nicht zu Eiskugeln, du Scherzkeks. Sie graben sich im Schlamm ein, ganz tief unten am Boden des Sees.« Sie hob einen Stein auf und warf ihn ins Wasser. »Früher gab es hier jede Menge Frösche. Ich weiß noch, wie ich ganze Eimer voll gefangen habe, als ich klein war.«
    »Früher?«
    »Heute gibt’s nicht mehr so viele. Mrs. Horatio sagt ...«
    Wieder diese Pause, als die Erinnerung an den Verlust zurückkehrte. Wieder dieser traurige Seufzer, bevor sie fortfuhr. »Sie sagte, es könne am sauren Regen liegen.«
    »Aber ich habe diesen Sommer viele Frösche gehört. Ich habe oft hier gesessen und ihnen zugehört.«
    »Ich wünschte, ich hätte da schon von dir gewußt.«
    »Ich wußte von dir.«
    Sie sah ihn verblüfft an. Errötend wandte er sich ab. »Ich habe dich in der Schule beobachtet«, sagte er. »Jeden Mittag in der Cafeteria habe ich dich angeschaut. Du hast wohl nichts gemerkt.«
    Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde, und er stand auf und sah zum Wasser hin, um ihren Blick zu meiden. »Gehst du auch ab und zu schwimmen? Ich bin jeden Tag hierhergekommen.«
    »Alle Kids kommen hierher.«
    »Und wo warst du dann letzten Sommer?«
    Sie zuckte die Achseln. »Ohrenentzündung. Der Doktor hat mir das Schwimmen verboten.«
    »Zu blöd.«
    Sie schwiegen. Dann sagte sie: »Noah?«
    »Ja?«
    »Hast du schon mal darüber nachgedacht ... nicht mehr nach Hause zu gehen?«
    »Du meinst, wegzulaufen?«
    »Nein, eher so was wie weg bleiben. «
    »Wegbleiben – von was?«
    Sie antwortete nicht. Als er sich nach ihr umdrehte, war sie schon aufgestanden und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Es ist kühl geworden.«
    Plötzlich bemerkte auch er die Kälte. Nur der Felsen hatte noch etwas Wärme gespeichert, und er spürte, wie sie immer mehr verflog, je tiefer die Sonne hinter den Bäumen versank.
    Die Wasseroberfläche kräuselte sich und wurde dann zu einer glatten schwarzen Glasscheibe. In diesem Moment schien der See zu einem eigenen Leben zu erwachen, ein einziger flüssiger Organismus. Er fragte sich, ob all das, was sie über den See gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, ob er wirklich während der Winternächte stöhnte. Er nahm an, daß so etwas passieren könnte. Wasser dehnt sich beim Gefrieren aus – eine physikalische Tatsache. Das Eis würde sich zuerst an der Oberfläche bilden, eine dünne Kruste, die während der dunklen Wintermonate langsam dicker

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