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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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drein. »Ich konnte den ET-Schlauch nicht einführen. Können Sie’s?«
    »Lassen Sie uns zuerst etwas anderes versuchen.« Claire wandte sich an die Schwester. »Geben Sie ihm eine Ampulle Kalziumchlorid, intravenös.«
    Die Schwester sah McNally fragend an. Dieser wiederum schüttelte ratlos den Kopf.
    »Warum wollen Sie ihm Kalzium geben?« fragte er.
    »Unmittelbar bevor sein Atem aussetzte, hat er das Antibiotikum bekommen, nicht wahr?« fragte Claire.
    »Ja, für die offene Brandwunde.«
    »Dann hatte er den Atemstillstand. Aber er hat nicht das Bewußtsein verloren. Ich glaube, er ist immer noch wach. Was bedeutet das?«
    Plötzlich begriff McNally. »Neuromuskuläre Paralyse. Von dem Gentamicin?«
    Sie nickte. »Ich habe es noch nie selbst gesehen, aber es gibt Berichte darüber. Und Kalzium kehrt die Reaktion um.«
    »Ich verabreiche jetzt das Kalziumchlorid«, sagte die Schwester.
    Alle sahen zu. Die Stille wurde nur hin und wieder durch das Zischen der Sauerstoffpumpe unterbrochen. Die Augenlider des Patienten reagierten zuerst. Sie zuckten und begannen sich allmählich zu öffnen. Er blickte auf und fixierte mit einiger Mühe Claires Gesicht.
    »Er beginnt zu atmen!« sagte der MTA.
    Sekunden später hustete der Patient, holte geräuschvoll Luft und hustete erneut. Er griff nach der Maske und versuchte, sie wegzuschieben.
    »Ich glaube, er will etwas sagen«, sagte Claire. »Lassen Sie ihn sprechen.«
    Der Patient antwortete mit einem Blick größter Erleichterung, als die Maske von seinem Gesicht entfernt wurde.
    »Möchten Sie etwas sagen, Sir?« fragte Claire.
    Der Mann nickte. Alle beugten sich vor, neugierig auf seine ersten Worte.
    »Bitte«, flüsterte er. »Ja?« ermunterte ihn Claire. »Das will ich aber ... nicht noch einmal ... erleben.«
    Claire klopfte dem Mann auf die Schulter, während ringsum alles in Gelächter ausbrach. Dann sah sie die Schwestern an. »Ich glaube, die Tracheostomie können wir streichen.«
    »Ich bin froh, daß hier wenigstens noch ein Mensch einen Sinn für Humor hat«, bemerkte McNally, als er und Claire wenige Minuten später die Kabine verließen. »In letzter Zeit hatten wir nicht viel zu lachen.« Bei der Schwesternstation blieb er stehen und blickte auf die Reihe der Monitore. »Ich habe keine Ahnung, wo wir noch jemanden unterbringen könnten.«
    Claire war überrascht, auf jedem der acht Bildschirme eine Herzrhythmuslinie zu sehen. Sie drehte sich um und ließ mit ungläubigem Staunen den Blick über die Intensivstation schweifen.
    Alle Betten waren belegt.
    »Was ist denn hier passiert?« fragte sie. »Als ich heute morgen meine Runde gemacht habe, war hier nur ein einziger Patient, nämlich meiner.«
    »Es hat während meiner Schicht angefangen. Zuerst ein kleines Mädchen mit einer Schädelfraktur. Dann ein Autounfall auf der Barnstown Road. Dann dreht ein Jugendlicher durch und zündet sein Elternhaus an.« McNally schüttelte den Kopf. »In der Unfallstation war den ganzen Tag lang ständig was los, und es kommen immer noch Patienten rein.«
    Über die Lautsprecheranlage hörten sie den Ruf: »Dr.McNally in die Unfallstation. Dr.McNally in die Unfallstation.«
    Er seufzte und wandte sich zum Gehen. »Muß wohl am Vollmond liegen.«
    Noah zog seine Jacke aus und legte sie über den Felsen. Der Granit fühlte sich warm an – der Sonnenschein eines ganzen Tages wurde von dem Stein zurückgestrahlt. Er drehte sich um und blinzelte, als er über den See blickte. Der Nachmittag war windstill, das Wasser ein polierter, strahlender Spiegel, der den Himmel und die kahlen Bäume reflektierte.
    »Ich wünschte, es wäre wieder Sommer«, sagte Amelia.
    Er blickte zu ihr hoch. Sie saß auf dem obersten Felsen, das Kinn auf die Knie gelegt, die in Blue Jeans steckten. Ihr blondes Haar hatte sie auf einer Seite hinters Ohr gesteckt, so daß die allmählich verheilende Wunde an ihrer Schläfe zu sehen war. Er fragte sich, ob sie wohl eine Narbe zurückbehalten würde, und wünschte fast, daß es so wäre – nur eine kleine Narbe, damit sie ihn nie vergäße. Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel sah, würde sie die verblaßte Spur der Kugel sehen und sich an Noah Elliot erinnern.
    Amelia wandte ihr Gesicht der Sonne zu. »Ich wünschte, wir könnten den Winter überspringen. Bloß einen Winter.«
    Er kletterte zu ihr hoch und setzte sich neben sie. Nicht zu nahe, nicht zu weit weg. So, daß er sie fast berührte – aber nur fast. »Ich weiß nicht, irgendwie freue

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