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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Der Anblick war nicht gerade einladend; die Bäume waren kahl, kein Zweig rührte sich, und im Unterholz wurde es allmählich dunkel. Sie hatte nicht so spät am Tag hierherkommen wollen, aber ein Schneesturm war angekündigt. Es hatte bereits ein wenig geregnet, und bei dem für die Nacht erwarteten Temperatursturz würde am nächsten Tag alles mit Schnee bedeckt sein. Dies war also ihre letzte Chance, den Waldboden abzusuchen.
    »Das könnte der gemeinsame Faktor sein, Lincoln. Ein natürliches Toxin aus irgendwelchen Pflanzen, die ausgerechnet in diesen Wäldern wachsen.«
    »Und die Jungen haben diese Pilze gegessen?«
    »Sie haben eine Art Ritual daraus gemacht. Iß einen Pilz und beweise, daß du ein Mann bist.«
    Sie folgten dem Bachbett, stapften durch knöcheltiefes Laub und Dickichte von Wildhimbeersträuchern. Der Waldboden war mit Zweigen übersät, und bei jedem Schritt gab es eine kleine Explosion. Ein Waldspaziergang im Spätherbst ist keine geräuschlose Angelegenheit.
    Sie kamen an eine kleine, von hoch aufragenden Eichen umstandene Lichtung.
    »Ich glaube, hier muß es sein«, sagte sie.
    Sie begannen damit, den Boden mit ihren Rechen freizulegen. Sie arbeiteten schnell und schweigend, während eine Art Schneeregen zu fallen begann, der alles mit einer Eisglasur überzog. Sie fanden Fliegenpilze, weiße Feenringe und eine leuchtend orangefarbene Pilzart.
    Es war Lincoln, der den blauen Pilz entdeckte. Er erspähte den kleinen Stummel in einem Spalt, der von zwei Baumwurzeln gebildet wurde. Nachdem er die Eichenblätter zur Seite gewischt hatte, war der Hut deutlich zu sehen. Doch es wurde bereits dunkel, und die Farbe des Pilzes war erst zu erkennen, als Lincoln ihn direkt mit der Taschenlampe anstrahlte. Sie kauerten Seite an Seite, während der Eisregen auf sie herabprasselte, und beide waren zu durchgefroren und zu erschöpft, um ein Gefühl des Triumphes zu empfinden, als Claire das Exemplar in einen Ziploc-Beutel tat.
    »Hier in der Nähe wohnt ein Biologe«, sagte sie. »Er wird vielleicht wissen, was das ist.«
    Schweigend patschten sie durch den Schlamm und kamen schließlich wieder zum Waldrand. Am See angekommen, hielten sie beide überrascht inne. Die Hälfte des Ufers lag in völliger Dunkelheit. Wo die Lichter der Häuser hätten leuchten sollen, war nur hier und da der Schimmer einer Kerze in einem Fenster zu sehen.
    »Eine schlechte Nacht für einen Stromausfall«, meinte
    Lincoln. »Es wird kalt werden, weit unter null Grad.«
    »Sieht so aus, als gäbe es an meinem Ende des Sees noch Elektrizität«, stellte sie erleichtert fest.
    »Nun ja, halten Sie trotzdem Brennholz bereit. Wahrscheinlich baut sich eine Eisschicht an den Stromkabeln auf. Sie könnten als nächste dran sein.«
    Sie warf die Rechen wieder in den Transporter und war gerade dabei, zur Fahrerseite hinüberzugehen, als ihr Blick auf etwas im See fiel. Es war nur ein schwacher Schimmer, und er wäre ihr vielleicht nicht aufgefallen, wäre da nicht der Kontrast zu den schwarzen Boulders gewesen, die an dieser Stelle ins Wasser ragten.
    »Lincoln«, sagte sie. » Lincoln! « Er war schon bei seinem Wagen und drehte sich um.
    »Was?«
    »Sehen Sie sich mal den See an.« Langsam ging sie auf die schmale Wasserzunge zu, wo die Wellen ans Ufer plätscherten.
    Er folgte ihr.
    Zuerst konnte er kaum verstehen, was er da sah. Es war nur ein schwacher Schimmer, wie Mondlicht, das auf der Wasseroberfläche tanzte. Aber der Mond war in dieser Nacht nicht zu sehen, und der helle Streifen, der da auf dem Wasser schwamm, leuchtete in phosphoreszierendem Grün. Sie stiegen auf einen der Felsen und blickten über das Wasser. Staunend betrachteten sie den Lichtstreifen, der sich wie eine Schlange auf dem Wasser wand, in Wirbeln von strahlendem Smaragdgrün. Keine gezielten Bewegungen, sondern ein träges Dahintreiben. Ein Wechsel von Zusammenziehen und Ausdehnen.
    Plötzlich wurde der Regen heftiger, und Eisnadeln tüpfelten den See.
    Die phosphoreszierenden Wirbel zerstoben in Tausende leuchtender Fragmente und lösten sich schließlich auf.
    Eine ganze Weile sagten weder Claire noch Lincoln etwas. Dann flüsterte er: »Was zum Teufel war das?«
    »Haben Sie es noch nie zuvor gesehen?«
    »Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, Claire. Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen.«
    Das Wasser war jetzt dunkel. Undurchdringlich. »Ich schon«, sagte sie.

11
    »Ich bin kein Pilzexperte«, erklärte Max Tutwiler. »Aber ich denke, ich

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