Trügerische Ruhe
Gesicht war zornig angespannt. Die Frau lugte vorsichtig aus der Tür heraus; auch sie starrte Claire an.
»Es wird streng vertraulich behandelt«, sagte Claire. »Lassen Sie mich mit ihnen reden, und ich werde die Polizei heraushalten.«
Die Frau sagte etwas zu Reid – eine inständige Bitte, nach ihrer Körpersprache zu urteilen. Er schnaubte verächtlich und stapfte ins Haus.
Die Frau kam zu Claire herüber. Sie war blond wie Reid, ihr Gesicht blaß und erschöpft; doch in ihren Augen lag keine Feindseligkeit. Es drückte eher einen verstörenden Mangel an Emotionen aus, als ob sie ihre Gefühle schon vor langer Zeit an einem sicheren Ort tief vergraben hätte.
»Die Jungen sind gerade aus der Schule zurückgekommen«, sagte die Frau.
»Sind Sie Mrs. Reid?«
»Ja, Ma’am. Ich heiße Grace.« Sie sah zum Haus. »Diese Jungen haben schon genug Ärger gehabt. Chief Kelly hat gesagt, wenn so was noch einmal vorkommt ...«
»Er muß nichts davon erfahren. Ich bin nur wegen meines Patienten hier, wegen Scotty. Ich muß wissen, welche Droge er genommen hat, und ich glaube, Ihre Jungen können es mir sagen.«
»Es sind Jacks Jungen, nicht meine.« Sie sah Claire an, als sei es außerordentlich wichtig, daß sie diese Tatsache begriff. »Ich kann sie nicht dazu zwingen, mit Ihnen zu reden. Aber Sie können hereinkommen. Lassen Sie mich nur rasch diese Hunde anbinden.«
Sie faßte die beiden Pitbulls an ihren Halsbändern und zog sie zu dem Ahorn hinüber, wo sie sie ankettete. Sofort begannen sie an den Ketten zu zerren und wild zu bellen, während Claire aus dem Wagen stieg und der Frau auf die Veranda folgte.
Das Innere des Hauses war wie ein Höhlenlabyrinth, mit niedrigen Decken und vollgestopft mit Gerümpel.
»Ich hole sie«, sagte Grace und verschwand über eine enge Treppe nach oben. Claire blieb allein im Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief. Der Einkaufskanal war eingeschaltet. Auf dem Couchtisch lag ein Notizblock, auf den jemand geschrieben hatte: »Chanel No. 5, 100 ml, 14,99 Dollar.« Sie atmete die Luft dieses Hauses ein, mit seinen Schimmel- und Zigarettendünsten, und fragte sich, ob Parfüm wohl ausreichen würde, um den Geruch der Armut zu überdecken.
Schwere Schritte polterten die Treppe herab, und zwei Jungen schlurften ins Zimmer. Die identischen Kurzhaarfrisuren ließen ihre blonden Köpfe unnatürlich klein aussehen. Sie sagten nichts, standen nur da und sahen sie aus ihren gelangweilten blauen Augen an. Die Teilnahmslosigkeit von Teenagern.
»Das sind Eddie und J. D.«, sagte Grace.
»Ich bin Dr. Elliot«, sagte Claire. Sie warf Grace einen Blick zu. Die Frau verstand und verließ leise das Zimmer.
Die Jungen ließen sich auf die Couch plumpsen, und ihre Blicke wandten sich automatisch dem Fernseher zu. Selbst als Claire die Fernbedienung nahm und den Apparat ausschaltete, stierten sie immer noch auf den leeren Bildschirm, wie aus alter Gewohnheit.
»Euer Freund Scotty Braxton liegt im Krankenhaus«, begann sie. »Habt ihr das gewußt?«
Es war lange Zeit still. Dann sagte Eddie, mit etwa vierzehn Jahren der jüngere der beiden: »Wir haben gehört, er ist gestern durchgedreht.«
»Das stimmt. Ich bin seine Ärztin, Eddie, und ich versuche herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Was immer ihr mir sagt, es bleibt unter uns. Ich muß wissen, welche Droge er genommen hat.«
Die Jungen tauschten einen Blick aus, den Claire nicht verstand.
»Ich weiß, daß er etwas genommen hat«, sagte sie. »Genau wie Taylor Darnell. Das haben die Bluttests der beiden ergeben.«
»Warum fragen Sie uns dann?« Es war J. D., der jetzt sprach; seine Stimme war tiefer als die von Eddie, und sie bebte vor Verachtung. »Klingt, als wüßten Sie es schon.«
»Ich weiß nicht, welche Droge es ist.«
»Ist es eine Pille?« fragte Eddie.
»Nicht unbedingt. Ich glaube, es ist eine Art Hormon. Es könnte eine Pille sein, eine Spritze oder auch eine Art Pflanze. Hormone sind Chemikalien, die von Lebewesen produziert werden. Von Pflanzen und Tieren, Insekten. Sie wirken in vielerlei Weise auf unseren Organismus. Dieses spezielle Hormon macht Menschen gewalttätig. Es bringt sie dazu, zu töten. Wißt ihr, woher er es bekommen hat?«
Eddie senkte den Blick, als fürchte er sich plötzlich, sie anzusehen.
Entnervt sagte sie: »Ich habe Scotty gerade heute morgen im Krankenhaus gesehen, und man hat ihn wie ein Tier gefesselt. Ja, es ist schlimm für ihn im Moment, aber es wird noch viel
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