Trügerische Ruhe
Haus herausgelockt und ihm ein Bett in ihrem Gästezimmer angeboten. Das Abendessen war vorbei, und jetzt saßen sie beim Feuer und gossen sich abwechselnd aus einer Brandyflasche ein. Die Flammen züngelten hell um ein Holzscheit herum, aber trotz all dem Licht, all der Verbrennung schien doch recht wenig Wärme die Kühle des Raums zu durchdringen. Draußen stießen die Schneeflocken gegen das Fenster, und ab und zu streiften Forsythienzweige das Glas, kahl wie Knochen.
»Was haben Sie auf dem See gesehen?«
»Es trieb auf der Wasseroberfläche in der Nähe der Boulders. Dieser Wirbel von grünem Licht kam einfach so vorbeigeschwommen. Nicht fest, sondern flüssig. Er hat seine Form verändert, etwa wie eine Öllache.« Sie nahm einen Schluck Brandy und starrte ins Feuer. »Dann kam der Eisregen, und er hat das Wasser aufgewühlt. Und das grüne Licht hat sich einfach aufgelöst.« Sie sah ihn an. »Klingt verrückt, nicht wahr?«
»Es könnte eine chemische Verunreinigung sein. Zum Beispiel fluoreszierende Farbe, die in den See gekippt wurde. Oder es könnte ein biologisches Phänomen sein.«
»Biologisch?«
Er drückte die Hand gegen die Stirn, als wolle er einen einsetzenden Kopfschmerz lindern. »Es gibt biolumineszente Algenarten. Und bestimmte Bakterien leuchten im Dunkeln. Da ist zum Beispiel eine Art, die eine symbiotische Beziehung mit einem lumineszenten Tintenfisch eingeht. Der Tintenfisch lockt Sexualpartner mittels eines Leuchtorgans
an, das seine Energie von den Bakterien bezieht.«
Bakterien, dachte sie. Eine Masse von Bakterien, die auf dem Wasser treibt.
»Scotty Braxtons Kopfkissen war mit einer fluoreszierenden Substanz bedeckt«, sagte sie.»Zuerst dachte ich, er hätte eine Art Malfarben benutzt. Jetzt frage ich mich, ob es nicht Bakterien waren.«
»Haben Sie eine Kultur davon genommen?«
»Von seinem Nasenschleim. Ich habe das Labor gebeten, jeden Organismus, der sich daraus entwickelt, zu identifizieren; deshalb wird es eine Weile dauern, bis die Ergebnisse da sind. Was haben Sie im Seewasser gefunden?«
»Bis jetzt ist keine der Kulturen zurück, aber vielleicht sollte ich noch ein paar zusätzliche Proben entnehmen, bevor ich meine Koffer packe und weiterziehe.«
»Wann gehen Sie weg?«
»Ich habe das Haus bis zum Ende des Monats gemietet. Aber wenn es noch kälter wird, überlege ich mir, ob ich nicht gleich nach Boston zurückgehe. Wo es Zentralheizungen gibt. Ich habe schon genug Daten gesammelt. Proben aus einem Dutzend verschiedener Seen in Maine.« Er sah zum Fenster, hinter dem der Schnee dicht wie ein Vorhang fiel. »Ich überlasse diesen Ort widerstandsfähigeren Naturen wie Ihnen.«
Die Flammen waren am Erlöschen. Sie stand auf, nahm ein Birkenscheit und warf es auf das Feuer. Die papierene Rinde entzündete sich sofort, knackte und versprühte Funken. Sie sah einen Augenblick lang zu und genoß die Hitze, die ihre Wangen erglühen ließ. »Ich bin gar nicht so widerstandsfähig«, sagte sie leise. »Und ich bin auch nicht so sicher, ob ich hierhergehöre.«
Er goß sich Brandy nach. »Hier gibt es eine Menge, woran man sich erst gewöhnen muß. Die Abgeschiedenheit. Die Leute. Es ist nicht einfach, an sie heranzukommen. Sie sind die einzige, die mich in diesem ganzen Monat zum Abendessen eingeladen hat.«
Sie setzte sich und betrachtete ihn mit einem neuen Gefühl der Sympathie. Sie erinnerte sich an ihre eigenen Anfänge in Tranquility. Wie viele Menschen kannte sie hier wirklich nach acht Monaten? Man hatte sie gewarnt, daß es so sein würde, daß die Einheimischen mißtrauisch gegenüber Fremden seien. Leute von auswärts werden wie Staubflocken nach Maine hereingeweht, verweilen dort für eine Saison oder zwei, dann werden sie in alle Winde verstreut. Sie haben hier keine Wurzeln, keine Erinnerungen. Nichts, das von Dauer wäre. Die Menschen aus Maine wissen das, und sie begegnen jedem Neuankömmling mit Argwohn. Sie fragen sich, was diesen Fremden zu ihnen getrieben hat, welche Geheimnisse sein Vorleben wohl bergen mag. Sie fragen sich, ob der Fremde vielleicht gerade die Ansteckung, der er entfliehen will, bei ihnen eingeschleppt hat. Wer in einer Stadt scheitert, dem wird es wahrscheinlich in der nächsten genauso ergehen.
Die Leute von Maine kennen den Ablauf der Ereignisse. Zuerst das neue Haus, mit viel Enthusiasmus erworben, der Garten mit frischgestampften Narzissenbeeten, die Schneeschuhe und die Daunenjacken. Ein Winter vergeht, vielleicht
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