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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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würde eine toxische Varietät erkennen, wenn ich sie zu sehen bekäme.«
    Claire nahm den Pilz aus dem Ziploc-Beutel und reichte ihn Max. »Können Sie uns sagen, was das ist?«
    Er setzte seine Brille auf und betrachtete das Exemplar im Licht einer Kerosinlampe. Er drehte es hin und her und begutachtete jedes Detail des schlanken Stiels und des grünlichblauen Hutes.
    Der Eisregen trommelte gegen die Fenster des Häuschens, und der Wind heulte im Kamin. Der Strom war vor einer Stunde ausgefallen, und Max’ Bungalow wurde von Minute zu Minute kälter. Der aufziehende Sturm schien Lincoln nervös zu machen. Claire konnte hören, wie er im Zimmer hin und her ging, sich an dem kalten Holzofen zu schaffen machte und die Fensterriegel überprüfte. Die eingefleischten Gewohnheiten eines Mannes, der harte Winter erlebt hatte. Er zündete die Zeitungen und Späne im Ofen an und warf ein Holzscheit darauf, aber das Holz war frisch und produzierte mehr Rauch als Wärme.
    Max sah nicht gut aus. Er saß in eine Decke gehüllt auf seinem Stuhl, und eine Schachtel Kleenex stand griffbereit daneben. Ein lebendiges Zeugnis für die unangenehmen Folgen einer Wintergrippe und eines ungeheizten Hauses.
    Schließlich hob er die wäßrigen Augen. »Wo haben Sie diesen Pilz gefunden?«
    »Oberhalb der Boulders.«
    »Boulders?«
    »Ja, so heißt die Stelle – es ist ein Treffpunkt für die Kids aus der Gegend. Sie haben diesen Sommer Dutzende von diesen Pilzen gefunden. Es ist das erste Jahr, in dem sie sie bemerkt haben. Aber es ist ja auch ein außergewöhnliches Jahr gewesen.«
    »Inwiefern?« fragte Max.
    »Wir hatten diese ganzen Überschwemmungen im Frühjahr. Und dann den heißesten Sommer seit Menschengedenken.«
    Max nickte ernst. »Globale Erwärmung. Die Anzeichen sind überall.«
    Lincoln blickte zum Fenster, wo Eiskörnchen wie kleine Nadeln gegen die Scheibe tickten, und lachte. »Nicht heute abend.«
    »Sie müssen das Gesamtbild sehen«, sagte Max. »Die Wetterabläufe ändern sich auf der ganzen Welt. Katastrophale Dürreperioden in Afrika. Überschwemmungen im Mittleren Westen. Ungewöhnliche Wachstumsbedingungen führen dazu, daß ungewöhnliche Dinge gedeihen.«
    »Wie blaue Pilze«, sagte Claire.
    »Oder achtbeinige Amphibien.« Er zeigte auf das Regal, wo seine Sammlung stand. Es waren inzwischen acht Gläser, und jedes enthielt eine Monstrosität der Natur.
    Lincoln nahm eines der Gläser vom Regal und starrte einen Salamander mit zwei Köpfen an. »Gütiger Himmel. Das haben Sie in unserem See gefunden?«
    »In einem der Schmelzwassertümpel.«
    »Und Sie denken, es liegt an der Erderwärmung?«
    »Ich kenne die Ursache nicht. Ich weiß auch nicht, welche Spezies als nächste betroffen sein wird.« Max richtete seine trüben Augen wieder auf den Pilz. »Es würde mich nicht überraschen, wenn die Flora auch in Mitleidenschaft gezogen würde.« Er drehte den Pilz um und schnüffelte daran. »Dieser verdammte Schnupfen hat meine Nase verstopft. Aber ich denke, ich kann es riechen.«
    »Was?«
    »Anis.« Er hielt ihr den Pilz hin. »Ich rieche es auch. Was bedeutet das?«
    Er stand auf und holte das Illustrierte Lehrbuch der Mykologie vom Regal. »Diese Spezies wächst sowohl in Hartholz- als auch in Nadelwäldern, von Mittsommer bis Herbst.« Er schlug eine Seite mit einem Farbdruck auf. » Clitocybe odora. Der Anistrichterling. Er enthält eine geringe Menge Muscarin, das ist alles.«
    »Ist das also unser Toxin?«
    Claire ließ sich in ihren Sessel zurückfallen und stieß einen Seufzer der Enttäuschung aus. »Nein, das ist es nicht. Muscarin wirkt vorwiegend auf Herz und Kreislauf und auf den Verdauungstrakt. Es verursacht kein gewalttätiges Verhalten.«
    Max steckte den Pilz wieder in den Beutel. »Manchmal«, sagte er, »gibt es keine Erklärung für Gewalt. Und das ist das Beängstigende. Daß sie so unerwartet kommen kann. Daß sie so oft ohne erkennbaren Grund geschieht.«
    Der Wind rüttelte an der Tür. Draußen hatte sich der Schneeregen in Schnee verwandelt, der in einem dichten weißen Wirbel am Fenster vorüberflog. Der Holzofen gab lediglich eine leise Ahnung von Wärme ab. Lincoln bückte sich, um nach dem Feuer zu sehen.
    Es war ausgegangen.
    »Lincoln und ich haben heute abend etwas gesehen. Auf dem See«, sagte Claire. »Es war fast wie eine Halluzination.«
    Sie und Max saßen vor dem Kamin in Claires Wohnzimmer und kehrten der Dunkelheit den Rücken zu. Sie hatte ihn aus seinem ungeheizten

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