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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Verwandte angerufen«, sagte sie, während sie sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr. »Da ist nur die Cousine seiner Mutter. Sie ist gerade aus Florida hergekommen, um bei Kitty zu sein, bis sie wieder gesund ist. Ich habe ihr gesagt, daß Scotty tot ist, und wissen Sie, was sie geantwortet hat? Sie hat gesagt: ›Es ist ein Segen.‹« Sie blickte Lincoln an und begegnete seinem ungläubigen Blick.
    »So hat sie es genannt, einen Segen. Eine Strafe Gottes.«
    Er legte den Arm um sie, und sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Stillschweigend gab er ihr die Erlaubnis zu weinen, doch sie gestattete sich diesen Luxus nicht. Sie mußte immer noch dieser Reportermeute gegenübertreten, und sie wollte ihnen kein tränenverquollenes Gesicht zeigen.
    Er ging direkt neben ihr, als sie das Krankenhaus verließ. Die kalte Luft traf sie im gleichen Moment wie das Sperrfeuer der Fragen.
    »Dr. Elliot! Ist es wahr, daß Scotty Braxton Drogen genommen hat?«
    »– Gerüchte über eine jugendliche Mörderbande?«
    »Hat er sich wirklich den Daumen abgebissen?«
    Benommen von den Zurufen, die auf sie niederprasselten, schob sich Claire blind durch die Menge, ohne irgendwelche Gesichter um sich herum zu erkennen. Ein Kassettenrecorder wurde ihr unter die Nase gehalten, und sie fand sich Auge in Auge mit einer löwenmähnigen Blondine.
    »Ist es wahr, daß die Stadt eine Vorgeschichte von Mordfällen hat, die Hunderte von Jahren zurückreicht?«
    »Was?«
    »Diese alten Knochen, die man am See gefunden hat. Es war ein Massenmord. Und ein Jahrhundert zuvor –«
    Lincoln trat zwischen die beiden Frauen. »Verschwinden Sie hier, Damaris!«
    Die Frau lachte verlegen. »Hey, ich mache doch bloß meinen Job, Chief.«
    »Dann schreiben Sie gefälligst über außerirdische Babys! Lassen Sie sie in Ruhe!«
    Eine neue Stimme rief: »Dr. Elliot?«
    Claire drehte sich um und blickte in das Gesicht des Mannes. Sie erkannte Mitchell Groome. Der Reporter trat auf sie zu und sah ihr in die Augen. »Flanders, Iowa«, sagte er leise. »Geschieht es hier?«
    Sie schüttelte den Kopf. Und sie flüsterte: »Ich weiß es nicht.«

13
    Warren Emersons Lungen schmerzten vor Kälte. Sein Außenthermometer hatte an diesem Morgen zwölf Grad unter Null angezeigt, und er hatte sich entsprechend warm angezogen. Unter seiner Jacke trug er zwei Hemden und einen Pullover, er hatte einen Hut und Handschuhe angezogen und einen Schal um den Hals gewickelt, doch gegen die kalte Luft, die er einatmen mußte, gab es keinen Schutz. Sie versengte seine Kehle und tat ihm in der Brust weh, verkrampfte seine Lungen. Er klang wie eine Lokomotive, die einen Berg hochschnauft. Es ist noch nicht mal Winter, dachte er, und die Welt hat sich schon in Eis verwandelt. Die kahlen Bäume waren damit überzogen, und ihre Äste glänzten wie Kristall. Auf der glatten Straße mußte er sehr vorsichtig gehen. Bedächtig setzte er einen Fuß vor den anderen, möglichst nur an den Stellen, die mit Sand von den vorbeifahrenden Lastwagen bedeckt waren. Es kostete ihn die doppelte Anstrengung, einfach nur auf den Beinen zu bleiben, und als er endlich den Stadtrand erreichte, zitterten die Muskeln in seinen Beinen.
    Die Kassiererin in Cobb and Morong’s Supermarkt hob den Kopf, als Warren den Laden betrat. Er lächelte ihr zu, wie er es jede Woche tat, immer in der Hoffnung, sie würde seinen Gruß erwidern. Er sah, wie sich ihre Mundwinkel zu einem automatischen Willkommensgruß zu verziehen begannen, doch dann richteten sich ihre Augen auf Warrens Gesicht, und das halb geformte Lächeln erstarrte. Sie blickte weg.
    Schweigend steckte Warren die Niederlage ein und nahm sich einen Einkaufswagen. Mit der gleichen müden Routine wie immer begann er seine Runde. Seine Stiefel schlurften über die knarrenden Dielen; dann blieb er vor dem Konservenregal stehen und starrte auf die Reihen von Dosen mit Maisbrei und grünen Bohnen und Rüben, mit ihren grellbunten Etiketten, die sommerliche Fülle suggerierten. Etiketten lügen, dachte er. Es ist kein Vergleich zwischen dieser Dose mit Orangenstückchen und einer Möhre, die du frisch und süß aus dem warmen Erdreich ziehst. Er stand da, ohne auch nur einen Artikel zu nehmen; statt dessen wanderten seine Gedanken zu dem Sommergemüse, das er früher gezogen hatte und das er jetzt so vermißte. Er zählte die Monate bis zum Frühling und rechnete dann noch die Monate dazu, die es brauchen würde, bis eine neue Ernte gereift wäre. Es

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