Trügerische Ruhe
psychiatrische Einrichtung. Nicht auf eine normale Krankenstation.«
»Ich habe mein Gutachten noch nicht abgeschlossen. Ich warte noch auf Laborergebnisse.«
»Wenn sein Zustand stabil ist, können Sie ihn doch verlegen, oder? Die Schwestern haben Angst, das Zimmer zu betreten. Sie können noch nicht einmal seine Laken wechseln, ohne daß drei Leute ihn festhalten. Wir möchten, daß er verlegt wird – je eher, desto besser.«
Es wird Zeit, eine Entscheidung zu treffen, dachte Claire, als sie den Flur entlang zu Scottys Zimmer ging. Wenn sie nicht eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostizieren konnte, würde sie ihn nicht länger im Krankenhaus halten können.
Der State Trooper, der vor Scotty Braxtons Krankenzimmer wachte, begrüßte Claire mit einem Kopfnicken. »Morgen, Doc!«
»Guten Morgen. Ich höre, er hat Sie ganz schön in Trab gehalten.«
»Die letzte Stunde war es ganz gut. Er hat keinen Pieps von sich gegeben.«
»Ich muß ihn noch einmal untersuchen. Würden Sie sich bereit halten, nur zur Sicherheit?«
»Selbstverständlich.« Er öffnete die Tür und kam genau einen Schritt weit, bevor er erstarrte. »Gütiger Gott!«
Zuerst registrierte Claire nur das Entsetzen in seiner Stimme. Dann schob sie sich an ihm vorbei ins Zimmer. Sie spürte den kalten Lufthauch, der von dem offenen Fenster kam, und sie sah das Blut. Es war über das ganze Bett verspritzt; Kopfkissen und Laken waren mit Flecken übersät, und die Handschellen, die vom Seitengitter herabhingen, waren dick mit Blut verschmiert. Auf dem Boden direkt unter den Handschellen hatte sich eine rote Lache gebildet. Das menschliche Gewebe, das am Rande dieser Lache lag, hätte man kaum erkannt, wäre da nicht der Fingernagel gewesen und der weiße Knochenstummel, der aus dem zerrissenen Fleisch ragte. Es war der Daumen des Jungen; er hatte ihn sich abgebissen.
Der Cop sank stöhnend in die Knie und hielt sich die Hände vors Gesicht. »O Gott«, murmelte er immer wieder. »O Gott ...«
Claire sah eine Spur von Abdrücken nackter Füße, die quer durch den Raum führte. Sie lief zu dem offenen Fenster und starrte auf den Boden ein Stockwerk unter ihr.
Der aufgewühlte Schnee war mit Blut vermischt. Fußstapfen und weitere Blutspuren führten vom Gebäude weg auf die bewaldete Grenze des Krankenhausgeländes zu.
»Er ist in den Wald gelaufen!« rief sie, dann rannte sie aus dem Zimmer und auf das Treppenhaus zu.
Sie lief hinunter ins Erdgeschoß und gelangte durch den Notausgang nach draußen, wo sie gleich knöcheltief im nassen Schnee einsank. Bis sie um das Gebäude herumgelaufen war und unter Scottys Fenster stand, war das eisige Wasser schon in ihre Schuhe eingedrungen. Sie nahm die Spur von Scottys Blut auf und folgte ihr quer über die ausgedehnte Schneefläche.
Am Waldrand blieb sie stehen und versuchte, im Schatten der Sträucher etwas zu erkennen. Sie konnte die Fußspuren des Jungen ausmachen, die sich im Unterholz verloren, und hier und da einen hellen Blutspritzer.
Mit pochendem Herzen drang sie in das Gehölz ein. Ein Tier ist am gefährlichsten, wenn es Schmerzen hat.
Ihre ungeschützten Hände waren taub vor Kälte, vor Angst, als sie einen Ast zur Seite schob und tiefer in den Wald hineinspähte. Hinter ihr brach ein Zweig mit lautem Knacken. Sie fuhr herum und stieß fast einen Schrei der Erleichterung aus, als sie den Trooper sah, der ihr aus dem Gebäude gefolgt war.
»Haben Sie ihn gesehen?« fragte er.
»Nein. Seine Fußspuren führen in den Wald.«
Er stapfte durch den Schnee auf sie zu. »Der Sicherheitsdienst ist unterwegs. Und das Team von der Unfallstation auch.«
Sie drehte sich wieder zu den Bäumen hin. »Hören Sie das?«
»Was?«
»Wasser. Ich höre Wasser.« Sie begann zu laufen, duckte sich unter tiefhängende Zweige und strauchelte durch das Unterholz. Die Fußspuren des Jungen verliefen jetzt in Schlangenlinien, als sei er getaumelt. Und hier war aufgewühlter Schnee, wo er hingefallen war. Zu großer Blutverlust, dachte sie. Er schwankt und steht kurz vor dem Kollaps.
Das Geräusch von schnell fließendem Wasser wurde lauter.
Sie bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp und fand sich am Ufer eines Baches. Regen und schmelzender Schnee hatten ihn zu einem reißenden Strom anschwellen lassen. In wilder Erregung suchte sie den Boden nach den Fußspuren des Jungen ab und sah schließlich, daß sie ein paar Meter weit parallel zum Bachufer verliefen.
Dann, am Rand des Wassers, hörten sie
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