Trügerische Ruhe
daran und schrie: »Noah!«
Es dauerte eine Weile, bis die Tür sich öffnete. Die Musik strömte auf sie ein, überschwemmte sie mit einer Welle von Lärm. Noahs kräftige Gestalt stand in der Tür; sein Hemd und seine Hose waren so weit, daß sie wie eine zerfledderte Robe von ihm herabhingen.
»Stell die Musik leiser!«
Er drückte den Netzschalter des Verstärkers, und die Musik brach abrupt ab. Noch in der Stille dröhnten ihr die Ohren.
»Was hast du eigentlich vor? Willst du dich taub machen? Und mich nebenbei völlig um den Verstand bringen?«
»Du warst nicht zu Hause.«
»Ich war zu Hause. Ich habe gerufen, aber du konntest mich nicht hören.«
»Ich höre dich jetzt, okay?«
»In zehn Jahren wirst du gar nichts mehr hören, wenn du deine Musik weiter so laut aufdrehst. Du bist nicht der einzige, der unter diesem Dach wohnt.«
»Wie könnte ich das vergessen, wo du mich doch ständig daran erinnerst?« Er ließ sich wie ein Stein auf einen Drehstuhl fallen und wirbelte ihn zum Schreibtisch herum. Er kehrte ihr den Rücken zu.
Sie stand da und beobachtete ihn. Obwohl er in einer Zeitschrift blätterte, verrieten ihr seine angespannten Schultermuskeln, daß er nicht wirklich las. Zu sehr war er sich ihrer Gegenwart bewußt – und seiner Wut auf sie.
Sie trat in sein Zimmer und setzte sich erschöpft auf das Bett. Nach einer Weile sagte sie: »Es tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe.«
»Das machst du in letzter Zeit dauernd.«
»Wirklich?«
»Ja.« Er blätterte um.
»Das ist nicht meine Absicht, Noah. Bei mir geht zur Zeit so vieles auf einmal schief, daß ich nicht weiß, worum ich mich zuerst kümmern soll.«
»Alles ist verkorkst, seit wir hierhergezogen sind, Mom. Alles. « Er warf die Zeitschrift auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken. Kaum hörbar flüsterte er: »Ich wollte, Dad wäre hier.«
Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Sie hörte, wie seine Tränen auf die Zeitschrift tropften, hörte an seiner stoßweisen Atmung, wie er um Beherrschung rang.
Sie stand auf und legte ihre Hände auf seine Schultern. Sie waren ganz verspannt, alle Muskeln verkrampft, so sehr kämpfte er gegen die Tränen. Wir sind einander so ähnlich, dachte sie; beide bemühen wir uns ständig, unsere Emotionen zu zügeln, die Kontrolle zu bewahren. Peter war der Extrovertierte in der Familie gewesen, er war derjenige, der auf Achterbahnen vor Vergnügen kreischte und im Kino in schallendes Gelächter ausbrach. Der unter der Dusche sang und mit seiner Kocherei den Rauchmelder auslöste. Derjenige, der nie gezögert hatte, zu sagen: »Ich liebe dich.«
Wie traurig würde es dich machen, wenn du uns jetzt sehen könntest, Peter. Wir haben Angst, aufeinander zuzugehen. Immer noch in Trauer, immer noch wie gelähmt durch deinen Tod.
»Er fehlt mir auch«, flüsterte sie. Sie legte die Arme um ihren Sohn und ließ die Wange auf seinen Kopf sinken, atmete den Geruch seines Haares ein, den sie so liebte. »Er fehlt mir auch.«
Unten klingelte es an der Haustür.
Nicht jetzt. Nicht jetzt.
Sie verharrte in der Umarmung, ignorierte das Geräusch, ließ nichts an sich heran als die Wärme ihres Sohnes, den sie in den Armen hielt.
»Mom«, sagte Noah, indem er sich aus ihren Armen löste.
»Mom, da ist jemand an der Tür.«
Widerwillig ließ sie von ihm ab und richtete sich auf. Der Augenblick, die Gelegenheit war vorbei, und sie starrte wieder seine verkrampften Schultern an.
Verärgert über diese neue Störung, ging sie die Treppe hinunter. Wieder wurde sie gefordert, wieder zerrte irgendwer sie von ihrem Sohn fort. Sie öffnete die Haustür, und vor ihr, im bitterkalten Wind, stand Lincoln, die behandschuhte Rechte erhoben, um erneut zu klingeln. Er war noch nie zuvor bei ihr zu Hause gewesen, und sein Besuch überraschte und verwirrte sie gleichermaßen.
»Ich muß mit Ihnen reden«, sagte er. »Darf ich reinkommen?«
Sie hatte noch kein Feuer im Wohnzimmer gemacht, und der Raum war kalt und deprimierend düster. Schnell schaltete sie alle Lampen ein, aber die Helligkeit konnte die Kälte nicht kompensieren.
»Als Sie mein Büro verlassen hatten«, sagte er, »habe ich angefangen, darüber nachzudenken, was Sie gesagt haben. Daß die Gewalttaten in dieser Stadt einem bestimmten Muster folgen. Daß es irgendeine Verbindung gibt zwischen 1946 und diesem Jahr.« Er griff in seine Jackentasche und zog die fotokopierten Artikel hervor, die sie ihm dagelassen hatte. »Raten Sie
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