Trügerische Ruhe
verschaffen. Egal wie.«
Sie stand am Wohnzimmerfenster und sah ihm nach, wie er die vereiste Auffahrt entlang zu seinem Wagen ging. Er bewegte sich mit dem sicheren Schritt eines Mannes, der in diesem erbarmungslosen Klima aufgewachsen war; jeder Fußtritt horizontal aufgesetzt, mit genügend Druck, um der Stiefelsohle auf dem Eis Halt zu geben. Er erreichte den Truck, öffnete die Tür – und sah aus irgendeinem Grund zu ihrem Haus zurück.
Nur für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke.
Und sie dachte staunend und mit leichtem Befremden:
Wie lange fühle ich mich schon von ihm angezogen? Wann hat es angefangen? Ich kann mich nicht erinnern. Jetzt gab es noch eine weitere Komplikation in ihrem Leben.
Sie blieb noch am Fenster, als er schon weggefahren war, und blickte in die Landschaft, aus der alle Farben herausgewaschen zu sein schienen. Schnee und Eis und kahle Bäume, und alles versank in einheitlichem Schwarz.
Im Obergeschoß hatte Noahs Musik wieder eingesetzt.
Sie wandte sich vom Fenster ab und schaltete das Licht im Wohnzimmer aus. In diesem Augenblick fiel ihr plötzlich das Versprechen ein, das sie Warren Emerson gegeben hatte, und sie stöhnte auf. Die Katze.
Die Nacht war bereits hereingebrochen, als sie die sanfte Steigung von Beech Hill hochfuhr und in Emersons Hof einbog. Sie parkte den Wagen neben dem Holzstoß, einem vollkommen kreisförmigen Turm aus übereinandergestapelten Scheiten. Sie dachte an die vielen Stunden, die es ihn gekostet haben mußte, das Holz mit dieser Präzision aufzuschichten, jedes Scheit mit einer Sorgfalt zu plazieren, die man normalerweise nur auf eine Steinmauer verwenden würde. Und dann mußte er alles Stück für Stück wieder abreißen, wenn der Winter sein alljährliches Kunstwerk langsam aufzehrte.
Sie stellte den Motor ab und blickte zu dem alten Farmhaus auf. Drinnen brannte nirgendwo Licht. Mit Hilfe einer Taschenlampe schaffte sie es, die vereisten Verandastufen zu erklimmen. Die ganze Konstruktion schien durchzuhängen, und sie hatte das merkwürdige
Gefühl, sich zur Seite zu neigen und zum Rand hin wegzurutschen, ins Nichts hinein. Warren hatte ihr gesagt, daß sie die Tür offen finden würde, und so war es auch. Sie trat ein und schaltete das Licht ein.
Die Küche tauchte vor ihr auf, und sie sah den ausgetretenen Linoleumboden und den abgestoßenen Gerätschaften. Eine kleine graue Katze starrte vom Fußboden zu ihr hoch. Sie hatten einander aufgeschreckt, sie und die Katze, und für ein paar Sekunden erstarrten beide.
Dann schoß die Katze zur Tür hinaus und verschwand irgendwo im Haus.
»Komm, Miez, Miez! Du willst doch dein Abendessen, oder nicht? Mona?«
Sie hatte vorgehabt, Mona für eine Weile in einem Tierheim unterzubringen. Warren Emerson war bereits für seine Kraniotomie ins Eastern Maine Medical Center verlegt worden, wo er mindestens eine Woche lang bleiben mußte. Claire konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, jeden Tag hierherzufahren, nur um eine Katze zu füttern. Aber offensichtlich war die Katze anderer Meinung.
Ihre Frustration stieg, während sie auf der Suche nach der eigensinnigen Mona von Zimmer zu Zimmer ging und überall das Licht einschaltete. Wie so viele andere Bauernhäuser aus der gleichen Zeit war auch dieses für eine große Familie gebaut worden, und es bestand aus einer Vielzahl von kleinen Zimmern, die durch das ganze Gerümpel noch beengter wirkten. Sie sah Stapel von alten Zeitungen und Zeitschriften, Ballen von Kartoffelsäcken, Kisten voll leerer Flaschen. Im Flur mußte sie sich seitwärts durch einen schmalen Spalt zwischen hohen Bücherstapeln schlängeln. Solche Hamsterei war gewöhnlich ein Zeichen von Geisteskrankheit, doch Warren hatte seinen Kram immerhin logisch angeordnet – Bücher und Zeitschriften getrennt, die braunen Papiertüten alle ordentlich gefaltet und mit Bindfaden zusammengebunden. Vielleicht war es nur eine Art extrem gesteigerte Yankee-Sparsamkeit.
Jedenfalls fand eine flüchtige Katze hier reichlich Deckung.
Sie war einmal durch das ganze Erdgeschoß gegangen, ohne auf Mona zu stoßen. Die Katze mußte sich in einem der oberen Zimmer versteckt halten.
Sie begann die Treppe hochzugehen und blieb dann stehen. Ihre Hände schwitzten plötzlich. Déjà vu, dachte sie. Ich habe das hier schon einmal erlebt. Ein fremdes Haus, eine fremde Treppe. Etwas Furchtbares, das auf dem Dachboden auf mich wartet ...
Aber dies war nicht Scotty Braxtons Haus, und das einzige
Weitere Kostenlose Bücher