Trügerische Ruhe
fünfzig Jahre.«
Chapman sah sie überrascht an. »Und dieser Tumor ist nie entdeckt worden?«
»Nein. Ich nehme an, da er diese Anfälle fast sein ganzes Leben lang hatte, hielt es Dr.Pomeroy nicht für notwendig, genauer nachzuforschen.«
Chapman schüttelte den Kopf. »Das läßt mich meine Diagnose überdenken. Zunächst einmal findet man Meningiome selten bei jungen Erwachsenen. Und ein Meningiom würde auch immer weiterwachsen. Also ist das da entweder nicht der Grund für seine Anfälle, oder es ist kein Meningiom.«
»Was könnte es sonst sein?«
»Ein Gliom. Eine Metastase von einem anderen Primärtumor.« Er zuckte die Achseln. »Es könnte sogar eine eingeschlossene Zyste sein.«
»Dieses Gewebe sieht fest aus.«
»Wenn es zum Beispiel von einer Tuberkulose oder einem Parasiten käme, würde der Körper mit einer Entzündung reagieren. Er würde sie mit vernarbtem Gewebe umschließen oder binden. Haben Sie seinen TB-Status überprüft?«
»Vor zehn Jahren war er PPD-negativ.«
»Nun, schließlich und endlich ist es immer noch eine pathologische Diagnose. Dieser Patient braucht eine Kraniotomie und Exzision.«
»Das bedeutet wohl, daß wir ihn nach Bangor verlegen müssen.«
»Wir führen in unserem Krankenhaus keine Kraniotomien durch. Unsere Ärzte überweisen neurochirurgische Fälle gewöhnlich an Clarence Rothstein am Eastern Maine Medical Center.«
»Können Sie ihn empfehlen?« Chapman nickte und schaltete die Beleuchtung aus. »Er hat sehr gute Hände.«
Gedünsteter Broccoli mit Reis und ein lächerlich kleines Klümpchen Kabeljau.
Louise Knowlton wußte nicht, ob sie es noch länger würde mit ansehen können, wie ihr Sohn langsam verhungerte. Er hatte noch einmal zwei Pfund abgenommen, und die nervliche Belastung zeigte sich in seinem düsteren Gesichtsausdruck und seinen Ausbrüchen von extremer Reizbarkeit. Er war nicht mehr ihr fröhlicher, unbeschwerter Barry.
Louise sah ihren Mann über den Tisch hinweg an und las den gleichen Gedanken in Mels Augen: Es ist die Diät. Nur wegen der Diät ist er so geworden.
Louise zeigte auf die Schüssel mit Pommes frites, die sie und Mel geteilt hatten. »Barry, Liebling, du siehst so hungrig aus! Ein paar hiervon können doch nicht schaden.«
Barry ignorierte sie und kratzte weiter mit seiner Gabel über den Teller, womit er ein Quietschen erzeugte, das einem die Zähne ziehen konnte.
»Barry, laß das!«
Er blickte auf und sah ihr direkt in die Augen. Es war der kälteste, stumpfeste Blick, den sie je gesehen hatte.
Mit zitternden Händen hielt Louise ihm die Pommes frites hin.
»O Barry, bitte«, murmelte sie. »Iß doch ein paar. Iß sie alle. Du wirst dich so viel besser fühlen, wenn du nur etwas ißt.«
Sie schnappte erschrocken nach Luft, als Barry seinen Stuhl zurückstieß und abrupt aufstand. Ohne ein Wort stapfte er davon und knallte seine Zimmertür hinter sich zu. Einen Augenblick später hörten sie das unermüdliche Geballer des Videospiels, mit dem ihr Sohn Horden von virtuellen Feinden umnietete.
»War heute morgen irgendwas in der Schule?« fragte Mel. »Haben diese Kinder wieder auf ihm rumgehackt?«
Louise seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
Sie saßen da und lauschten dem immer schneller werdenden Dauerfeuer. Dem Geschrei und dem Stöhnen der virtuellen Opfer, die in irgendeiner Super-Nintendo-Hölle starben.
Louise sah auf den Haufen völlig durchweichter Pommes frites hinab und schüttelte sich. Zum ersten Mal im Leben schob sie ihren Teller von sich, ohne ihn geleert zu haben.
Noahs Stereoanlage lief auf vollen Touren, als Claire zu Hause ankam. Die Kopfschmerzen, die im Laufe des Nachmittags immer stärker geworden waren, schienen ihren Schädel zusammenzupressen und Krallen in ihre Stirn zu bohren. Sie hängte ihren Mantel auf und blieb am Fuß der Treppe stehen. Sie hörte das unablässige Stampfen des Schlagzeugs, den monotonen Gesang, und sie konnte kein einziges Wort verstehen. Wie soll ich darauf achten, welche Musik mein Kind hört, wenn ich noch nicht einmal weiß, worum es in den Songs geht?
Das konnte nicht so weitergehen. Sie konnte diesen Lärm nicht ertragen, nicht heute abend. Sie rief die Treppe hoch: »Noah, stell das leiser!«
Die Musik spielte mit unverminderter Lautstärke weiter. Unerträglich.
Sie ging die Treppe hoch, und ihre Gereiztheit verwandelte sich in Zorn. Als sie an seinem Zimmer ankam, fand sie die Tür verschlossen. Sie hämmerte
Weitere Kostenlose Bücher