Trügerische Ruhe
mal. Die Antwort springt einem geradezu ins Gesicht.«
»Welche Antwort?«
»Sehen Sie sich die erste Seite an. Die Oktobernummer von 1946.«
»Ich habe den Artikel schon gelesen.«
»Nein, nicht die Story von dem Mord. Sondern den Artikel weiter unten. Er ist Ihnen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen.«
Sie glättete die Seite auf ihrem Schoß. Der Artikel, den er meinte, war teilweise abgeschnitten; nur die obere Hälfte war kopiert worden. Die Überschrift lautete: REPARATURARBEITEN AN DER LOCUST RIVER BRIDGE BEENDET.
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, meinte sie.
»Wir mußten dieselbe Brücke auch dieses Jahr reparieren. Erinnern Sie sich?«
»Ja.«
»Und weshalb mußten wir sie reparieren?«
»Weil sie kaputt war?«
Er fuhr sich frustriert mit der Hand durchs Haar. »Mein Gott, Claire, denken Sie mal darüber nach! Warum war die Brücke reparaturbedürftig? Weil sie unterspült worden war. Wir hatten im vergangenen Frühjahr Rekordniederschläge, und sie haben den Locust River anschwellen lassen, so daß er zwei Häuser weggeschwemmt und eine ganze Reihe von Fußgängerbrücken mit sich gerissen hat. Ich habe die U. S. Geological Survey angerufen, und sie haben mir bestätigt, daß die Regenfälle in diesem Jahr die heftigsten seit zweiundfünfzig Jahren waren.«
Sie blickte auf, als ihr plötzlich klar wurde, was er ihr zu sagen versuchte. »Dann war also das letzte Mal, daß es so stark geregnet hat ...«
»Im Frühjahr 1946.« Sie ließ sich gegen die Stuhllehne sinken, überwältigt von der offensichtlichen Übereinstimmung. »Regen«, murmelte sie. »Feuchter Boden. Bakterien. Pilze ...«
»Ja, Pilze. Was war denn mit diesen blauen, die wir gefunden haben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Max hat sich seine Identifizierung bestätigen lassen. Sie sind nicht sehr giftig. Aber schwere Regenfälle würden auch das Wachstum von anderen Pilzen fördern. Es war auch ein Pilz, der für die massenhaften Ausbrüche des Veitstanzes verantwortlich war.«
»Ist das eine Art Anfall?«
»Der medizinische Fachbegriff für den Veitstanz ist Chorea. Er äußert sich in verdrehten, ruckartigen Bewegungen der Gliedmaßen, die an einen Tanz erinnern. Hier und da gibt es Berichte über eine epidemische Ausbreitung der Krankheit. Vielleicht steht sie sogar hinter den Anklagen wegen Hexerei damals in Salem. Nach einem kalten, nassen Frühling kann die Roggenernte von diesem Pilz befallen werden. Die Menschen, die von dem Roggen essen, bekommen dann Chorea.«
»Könnten wir es denn mit einer Form des Veitstanzes zu tun haben?«
»Nein. Was ich sage, ist nur, daß es in der Geschichte immer schon Beispiele für menschliche Erkrankungen gegeben hat, die mit dem Klima in Verbindung standen. Wir denken vielleicht, daß wir unsere Umwelt beherrschen, aber wir werden von so vielen Organismen beeinflußt, die wir nicht sehen können.« Sie brach ab, als ihr Scotty Braxtons negative Kulturen in den Sinn kamen. Bisher hatte sich weder aus seinem Blut noch aus seiner Rückenmarksflüssigkcit irgend etwas entwickelt. Könnte es eine Quelle der Infektion geben, die sie übersehen hatte? Einen Organismus, der so ungewöhnlich, so unerwartet war, daß das Labor ihn als Irrtum abgetan hätte?
»Es muß bei diesen Kindern einen gemeinsamen Faktor geben«, sagte sie. »Zum Beispiel, daß sie alle den gleichen kontaminierten Nahrungsmitteln ausgesetzt waren. Alles, was wir haben, ist dieser offensichtliche Zusammenhang zwischen Regenfällen und Gewalttaten. Es könnte auch nur Zufall sein.«
Er saß eine Weile schweigend da. Sie hatte sein Gesicht schon oft betrachtet und die Stärke, die sie darin sah, bewundert, die ruhige Selbstsicherheit. Heute sah sie die Intelligenz in seinen Augen. Er hatte zwei scheinbar völlig unzusammenhängende Informationen genommen und zu einem Muster zusammengesetzt, das ihr selbst nie aufgefallen wäre.
»Dann müssen wir also diesen gemeinsamen Faktor finden«, sagte er.
Sie nickte. »Könnten Sie mir Zugang zur Jugendhaftanstalt verschaffen? Damit ich mit Taylor sprechen kann?«
»Das dürfte schwierig sein. Sie wissen, daß Paul Darnell Ihnen immer noch die Schuld gibt.«
»Aber Taylor ist nicht der einzige Betroffene. Paul kann mich nicht für all das verantwortlich machen, was in dieser Stadt schiefläuft.«
»Bis jetzt kann er das noch nicht.« Lincoln erhob sich. »Wir brauchen die Antworten noch vor der Stadtversammlung. Ich werde Ihnen ein Gespräch mit dem Jungen
Weitere Kostenlose Bücher