Trügerische Ruhe
Wesen, das ihr dort oben auflauerte, war eine verängstigte Katze.
Sie zwang sich dazu, weiterzugehen, und rief immer wieder »Komm, Miez!« – wenn auch nur, um ihren sinkenden Mut zu stärken. Im Obergeschoß waren vier Türen, doch nur eine davon stand offen. Wenn die Katze nach oben geflohen war, mußte sie in diesem Zimmer sein.
Claire trat durch die Tür und schaltete das Licht ein.
Sofort wurde ihr Blick von den Schwarzweißfotografien angezogen. Dutzende davon hingen an der Wand, standen auf der Kommode und dem Nachttisch. Eine Galerie der Erinnerungen von Warren Emerson. Sie durchquerte den Raum und starrte die drei Gesichter an, die sie aus einem der Fotos anlächelten; ein Paar in mittleren Jahren mit einem kleinen Jungen. Die Frau hatte ein rundes Gesicht und war nicht besonders hübsch; ihr Hut thronte mit einer schwindelerregenden Neigung auf ihren Haaren. Der Mann an ihrer Seite schien das auch sehr amüsant zu finden; seine Augen strahlten vor Lachen. Beide hatten eine Hand auf die Schultern des Jungen gelegt, der zwischen ihnen stand, so daß sie ihn auch physisch für sich beanspruchten, als ihr gemeinsames Eigentum.
Und der Junge mit der Schmalztolle und den fehlenden Schneidezähnen – das mußte der kleine Warren sein, wie er sich da im Glanz der elterlichen Aufmerksamkeit sonnte.
Ihr Blick wanderte zu den anderen Fotos, und sie sah die gleichen Gesichter wieder und wieder, in verschiedenen Jahreszeiten, an verschiedenen Orten. Hier war ein Schnappschuß der Mutter, wie sie stolz eine Torte hochhielt. Dort eine Aufnahme von Vater und Sohn mit ihren Angelruten an einem Flußufer. Und schließlich ein Schulfoto eines jungen Mädchens, offensichtlich Warrens Liebste, denn unten hatte jemand ein Herz eingezeichnet mit den Worten Warren und Iris für immer darin. Mit Tränen in den Augen betrachtete Claire den Nachttisch; ein halbvolles Wasserglas stand darauf.
Sie betrachtete das Bett mit den ausgefallenen grauen Haaren auf dem Kopfkissen. Warrens Bett.
Jeden Morgen wachte er allein in diesem Zimmer auf, im Angesicht der Fotos seiner Eltern. Und jeden Abend war der letzte Eindruck, den seine Augen wahrnahmen, das Bild ihrer lächelnden Gesichter.
Sie weinte jetzt, weinte um das Kind, das er einmal gewesen war. Ein einsamer kleiner Junge, gefangen im Körper eines alten Mannes.
Sie ging wieder nach unten in die Küche.
Es hatte keinen Sinn, einer Katze nachzujagen, die nicht gefangen werden wollte. Sie würde einfach das Futter in der Schüssel stehenlassen und ein anderes Mal wiederkommen. Claire öffnete die Tür der Speisekammer und sah Regale voll mit Katzenfutterdosen – Dutzende und Dutzende davon. In der ganzen Küche gab es kaum etwas, das zum menschlichen Verzehr geeignet war, aber für die verwöhnte Mona war jedenfalls reichlich gesorgt.
Heute rechnet sie mit Thunfisch.
Also Thunfisch. Sie leerte die Dose in den Katzennapf und stellte ihn auf den Boden neben die Wasserschüssel. Dann füllte sie noch eine weitere Schale mit Trockenfutter, genug für mehrere Tage. Nachdem sie noch das Katzenklo ausgeleert hatte, schaltete sie das Licht aus und ging hinaus.
Von ihrem Wagen aus warf sie einen letzten Blick auf das Haus. Warren Emerson hatte den größten Teil seines Lebens innerhalb dieser Mauern verbracht, ohne menschliche Gesellschaft, ohne Liebe. Er würde wahrscheinlich in diesem Haus sterben, allein, mit einer Katze als einziger Zeugin.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann wendete sie den Wagen und fuhr die dunkle Straße entlang nach Hause. An diesem Abend rief Lincoln sie an.
»Ich habe mit Wanda Darnell gesprochen«, sagte er. »Ich habe ihr gesagt, daß es vielleicht einen biologischen Grund für die Handlungen ihres Sohnes gibt. Daß auch andere Jugendliche in der Stadt betroffen sind und daß wir versuchen, die Ursache herauszufinden.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Ich glaube, sie ist erleichtert. Es bedeutet, daß die Schuld irgendwo anders zu suchen ist. Nicht in ihrer Familie. Nicht bei ihr.«
»Ich verstehe das vollkommen.«
»Sie erlaubt Ihnen, mit ihrem Sohn zu sprechen.«
»Wann?«
»Morgen. Im Maine Youth Center.«
Eine lange Reihe von Betten säumte die Wand des stillen Schlafsaals. Die Morgensonne schien durch die hohen Fenster herein und warf ein helles Lichtquadrat auf die schmächtigen Schultern des Jungen. Er saß auf dem Bett und hatte die Beine an die Brust gezogen, den Kopf gesenkt. Das war nicht mehr der Junge, den sie vor vier
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