Trügerische Ruhe
Wochen gesehen hatte, fluchend und um sich schlagend. Das hier war ein geprügeltes Kind, dessen Hoffnungen und Träume man mit Füßen getreten hatte, bis nur noch seine körperliche Hülle zurückgeblieben war.
Er blickte nicht auf, als Claire sich näherte, obwohl ihre Schritte auf den ausgetretenen Dielen hallten. Sie blieb neben seinem Bett stehen. »Hallo, Taylor. Möchtest du mit mir reden?«
Der Junge hob eine Schulter. Es war kaum ein Achselzucken, doch man konnte darin so etwas Ähnliches wie eine Einladung sehen.
Sie nahm sich einen Stuhl, und dabei fiel ihr Blick auf den kleinen Schreibtisch aus Kiefernholz neben seinem Bett. Zahllose junge Insassen hatten das Möbelstück schon malträtiert, hatten vulgäre Schimpfworte und ihre Initialen in die Oberfläche geritzt. Sie fragte sich, ob Taylor sich bereits in diesem dauerhaften Register der Verzweiflung verewigt hatte.
Sie schob den Stuhl an sein Bett und setzte sich. »Was auch immer wir heute besprechen, Taylor, es bleibt unter uns, okay?« Er zuckte die Achseln, als spiele das kaum eine Rolle.
»Erzähl mir, was an diesem Tag in der Schule passiert ist. Warum hast du es getan?«
Er ließ die Wange auf seine Knie sinken, als ob er plötzlich zu erschöpft sei, um das Gewicht seines Kopfs zu tragen. »Ich weiß nicht, warum.«
»Kannst du dich an den Tag erinnern?«
»Mmh.«
»An alles?«
Er schluckte hörbar, sagte aber nichts. Sein Gesicht nahm plötzlich einen gequälten Ausdruck an, und er schloß die Augen, preßte sie so fest zu, daß sein ganzes Gesicht in sich zusammenzufallen schien. Er holte tief Luft, doch statt des erwartbaren Schmerzensschreis kam nur ein hoher, dünner Klagelaut heraus.
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe.«
»Du hast an diesem Tag eine Pistole in die Schule mitgenommen?«
»Um zu beweisen, daß ich eine habe. Sie haben mir nicht geglaubt. Sie haben gesagt, ich hätte das nur erfunden.«
»Wer hat dir nicht geglaubt?«
»J. D. und Eddie. Sie geben immer damit an, daß ihr Dad sie mit seinen Gewehren schießen läßt.«
Wieder einmal Jack Reids Söhne. Wanda Darnell hatte gesagt, sie hätten einen schlechten Einfluß auf Taylor, und sie hatte recht gehabt.
»Du hast also deine Pistole in die Schule mitgenommen«, sagte Claire. »Hattest du vor, sie zu benutzen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte sie bloß in meinem Rucksack. Aber dann habe ich im Test eine Vier gekriegt. Und Mrs.Horatio – sie hat mich angeschrien wegen diesem blöden Frosch.« Er begann vor und zurück zu schaukeln, die Arme um die Knie geschlungen, jeder Atemzug von einem Schluchzen begleitet. »Ich wollte sie alle umbringen. Es war, als ob ich nicht aufhören könnte. Ich wollte es ihnen allen heimzahlen.«
Er hörte auf zu schaukeln und wurde plötzlich ganz still, sein Blick leer, auf nichts gerichtet. »Ich bin nicht mehr wütend auf sie. Aber jetzt ist es zu spät.«
»Es war vielleicht nicht deine Schuld, Taylor.«
»Alle wissen, daß ich es war.«
»Aber du hast mir gerade gesagt, daß du die Kontrolle über dich verloren hattest.«
»Trotzdem ist es meine Schuld ...«
»Taylor, sieh mich an. Ich weiß nicht, ob dir jemand von deinem Freund Scotty Braxton erzählt hat.«
Langsam hob der Junge den Blick und schaute sie an.
»Ihm ist etwas ganz Ähnliches passiert. Und jetzt ist seine Mutter tot.«
Sie sah an seinem schockierten Gesichtsausdruck, daß man ihm nichts davon gesagt hatte.
»Niemand kann erklären, warum er durchgedreht ist. Warum er sie angegriffen hat. Du bist nicht der einzige, dem das passiert ist.«
»Mein Vater sagt, es ist, weil Sie mir meine Medizin weggenommen haben.«
»Scotty hat gar keine Medizin genommen.« Sie hielt inne und sah ihn forschend an. »Oder etwa doch?«
»Nein.«
»Das ist jetzt sehr wichtig. Du mußt mir die Wahrheit sagen, Taylor. Hat einer von euch beiden irgendwelche Drogen genommen?«
»Ich sage die Wahrheit.« Er blickte sie unverwandt an. Und sie glaubte ihm. »Was ist mit Scotty?« fragte er. »Kommt Scotty hierher?«
Die Tränen schossen ihr plötzlich in die Augen. Leise sagte sie: »Es tut mir leid, Taylor. Ich weiß, ihr beide wart gute Freunde ...«
»Die besten. Wir sind die besten Freunde.«
»Er war im Krankenhaus. Und da ist etwas passiert. Wir haben versucht, ihm zu helfen, aber – es gab nichts –«
»Er ist tot. Nicht wahr?«
Mit seiner direkten Frage flehte er sie um eine ehrliche Antwort an. Sie sagte leise: »Ja.
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