Trügerische Ruhe
Leider.«
Er ließ den Kopf auf die Knie fallen, und die Worte sprudelten heraus, von Schluchzern unterbrochen. »Scotty hat nie etwas Böses getan! Er war ein richtiger Waschlappen. So hat J. D. ihn immer genannt: der blöde Waschlappen. Ich habe ihn nie in Schutz genommen. Ich hätte etwas sagen sollen, aber das habe ich nie getan ...«
»Taylor. Taylor, ich muß dir noch eine Frage stellen.«
»... ich hatte einfach Angst.«
»Du warst viel mit Scotty zusammen. Wo habt ihr eure Freizeit verbracht?«
Er antwortete nicht; er schaukelte nur weiter vor und zurück.
»Ich muß das wirklich wissen, Taylor. Wo habt ihr euch aufgehalten?«
Er holte zitternd Luft. »Wir – wir waren immer mit den anderen zusammen.«
»Wo?«
»Ich weiß nicht! Hier und da.«
»Im Wald? Bei jemandem zu Hause?«
Er hielt wieder mit dem Schaukeln inne, und einen Moment lang dachte sie, er habe die letzte Frage nicht verstanden. Dann hob er den Kopf und sah sie an. »Am See.«
Locust Lake. Der See war das Zentrum aller Aktivitäten in Tranquility, der Ort für Picknicks und Schwimmwettbewerbe, für Bootssport und Angeln. Ohne ihn gäbe
es keine Sommertouristen, keine Einnahmen. Die Stadt selbst würde aufhören zu existieren.
Es hat alles mit dem See zu tun, dachte sie plötzlich. Wasser und Regenfälle. Überschwemmungen und Bakterien.
Der Abend, als das Wasser leuchtete.
»Taylor«, sagte sie, »du und Scotty, seid ihr beide im See geschwommen?«
Er nickte. »Jeden Tag.«
15
Die Stadtversammlung war für 19 Uhr 30 angesetzt, und schon um Viertel nach sieben war jeder Platz in der Cafeteria der High School besetzt. Die Menschen drängten sich in den Gängen, standen dicht an dicht entlang der Wände, und einige harrten sogar draußen in der Kälte vor den Hintertüren aus. Von ihrem Stehplatz an der Seite aus hatte Claire einen guten Blick auf das Rednerpult an der Stirnwand. Auf dem Podium saßen Lincoln, Fern Cornwallis und der Vorsitzende des Stadtrats, Glen Ryder. Die fünf Ratsmitglieder saßen zusammen in der ersten Reihe.
Claire erkannte viele der Gesichter im Publikum. Die meisten waren andere Eltern, die sie bei Schulfesten und anderen Veranstaltungen kennengelernt hatte. Sie sah auch eine Reihe ihrer Kollegen vom Knox Hospital. Auch ein Dutzend Teenager waren gekommen; sie hatten es vorgezogen, am hinteren Ende der Cafeteria zu stehen, wo sie sich dicht zusammendrängten, als wollten sie die Angriffe der Erwachsenen abwehren.
Glen Ryder ließ seinen Hammer niedersausen, aber die Menge war zu groß und zu erregt, um ihn zu hören. Der frustrierte Ryder mußte auf einen Stuhl steigen und schreien: »Ruhe im Saal, und zwar sofort!«
Endlich wurde es still in der Cafeteria, und Ryder fuhr fort: »Ich weiß, daß es hier nicht genug Sitzplätze für alle gibt. Ich weiß, daß da draußen Leute sind, die sich ärgern, daß sie bei dreizehn Grad minus im Freien stehen müssen. Aber der Chef der Feuerwehr sagt, daß wir die Belegungsgrenze für diesen Raum schon überschritten haben. Wir können einfach niemanden mehr einlassen, es sei denn, es verläßt vorher jemand den Saal.«
»Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, wenn ein paar von den Kindern da hinten gehen und den Erwachsenen Platz machen würden.«
Einer der Teenager entgegnete: »Wir haben auch ein Recht, hier zu sein!«
»Ihr Kids seid doch überhaupt der Grund, weshalb wir hier sind!«
»Wenn hier über uns geredet wird, dann wollen wir auch hören, was gesagt wird!«
Ein halbes Dutzend Stimmen erhoben sich gleichzeitig.
»Niemand wird hier rausgeworfen!« rief Ryder. »Das hier ist eine öffentliche Versammlung, Ben, und wir können niemanden ausschließen. Jetzt lassen Sie uns endlich anfangen.«
Ryder sah Lincoln an. »Chief Kelly, geben Sie uns doch mal einen aktuellen Überblick über die Probleme in der Stadt.«
Lincoln erhob sich. Die letzten paar Tage hatten ihn ausgelaugt, sowohl physisch als auch psychisch, und es zeigte sich in der Art, wie er die Schultern hängenließ. »Das war kein guter Monat«, sagte er. Eine typische Untertreibung à la Lincoln Kelly »Die ganze Aufmerksamkeit scheint sich nur auf die Morde zu konzentrieren. Die Schießerei in der Schule am zweiten November, und dann die Sache bei Braxtons am fünfzehnten November. Das sind zwei Morde in zwei Wochen. Was mir aber noch mehr angst macht, ist, daß uns das Schlimmste vermutlich noch bevorsteht. Letzte Nacht haben meine Leute acht verschiedene Anrufe
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