Trügerischer Friede
Straßenbiegung war
Norina erschöpft eingeschlafen.
So bekam sie nicht mit, dass Elenja den rechten Handschuh auszog und ihr Gesicht mit den kalten, weißen Spitzenfingern streichelte.
Kontinent Kalisstron, Bardhasdronda, Spätherbst im Jahr 1 Ulldrael des Gerechten (460 n.S.) Lorin ließ den Brief sinken, dann schaute er in die Gesichter der Anwesenden, allen voran Rantsüa und Sintiep, der Neffe des verstorbenen Kalfaffel und neuer Bürgermeister Bardhasdrondas. Sie hatten sich in dessen Amtsstube versammelt, um die Neuigkeiten zu bereden.
Leider würden sie alles andere als gut sein. Draußen tobte
der Wind, der eisigen Regen mit sich brachte, und der Himmel hatte sich verdunkelt. Das Wetter passte hervorragend
zu Lorins Stimmung.
»Perdor schreibt uns, dass es noch eine Weile dauern kann«, fasste er das Gelesene zusammen. »Soscha reist zuerst nach Ulsar und wird sich danach ohne Umschweife zu uns begeben.« Er suchte die Stelle mit der vermuteten Ankunftszeit. »Der König meinte, sie könne im Herbst bei uns sein.«
Rantsila schöpfte laut nach Luft. »Seskahin, es ist Herbst. Spätherbst, um es genau zu sagen, und die Stürme machen es in einer oder zwei Wochen unmöglich, dass sie uns mit einem Schiff erreicht. Sie müsste höchstens ganz im Süden Kalisstrons anlanden und dann mit einem Schlitten zu uns stoßen.«
»Sie wird kommen. Perdor hat es mir versprochen«, beschwichtigte Lorin dessen Befürchtungen. Sintjop, der seinem Onkel sehr ähnelte und die gleiche Vorliebe für Tabak hegte, machte ein finsteres Gesicht. »Gehen wir einmal von dem Schlimmsten aus: Wenn sie nicht kommt und uns hilft, was machen wir dann? Wir sitzen eingeschlossen in unserer eigenen Stadt, wir werden die Süßnollen-Ernte nicht einbringen können, weil sich die Menschen nicht auf die Felder wagen, und die Fischschwärme sind in ihre Wintergebiete gezogen.« Er stand von seinem Stuhl auf. »Wir werden uns Proviant für Bardhasdronda von den anderen Städten kaufen und mit Schiffen durch Packeis manövrieren müssen. Sofern wir das anscheinend unsichtbare Wesen, das uns wie ein hungriges Raubtier umschleicht, nicht bald töten.«
»Ich kann es noch einmal versuchen«, bot sich Lorin sofort
an, aber Sintjop schüttelte den Kopf mit den langen, braunen
Locken. Wie alle Cereler wirkte er wie ein gealtertes Kind.
»Nein, Seskahin. Setze dein Leben nicht unnötig aufs Spiel Ich habe eine Entscheidung getroffen.«
Sintjop blickte
unsicher in die Runde. »Wir stellen uns dem Gegner gemeinsam. Wir werden die Felder abernten, die Miliz bewacht die Leben der Arbeiter. Ganz Bardhasdronda wird hinausgehen. Die Alten, Schwachen und Kranken bleiben hinter den Mauern.« Er nahm sich die Pfeife und stopfte sie mit einem Kraut, das mit schweren Gewürzen versetzt worden war. »Dieses Wesen kann uns nicht alle fressen, und sollte es sich dennoch aus dem Wald wagen, werden wir es zur Strecke bringen.«
»Du bringst viele Kinder und Mütter in Gefahr«, warnte Rantsila. »Wir wissen nicht, wozu dieses Wesen, das sich aus dem Stein befreite, in der Lage ist und ob inzwischen nicht weitere aus ihren Gefängnissen oder Eiern oder was auch immer geschlüpft sind.«
»Ich weiß, dass es gefährlich ist«, meinte Sintjop ernst. »Hat jemand einen besseren Einfall?«
Lorin räusperte sich. »Ich sage es noch einmal: Lass mich nachschauen, wo es sich verkrochen hat.«
»Trägst du denn genügend Magie in dir, um dich gegen es zur Wehr zu setzen ?«, fragte Rantsila.
»Ich weiß es nicht«, gestand Lorin ein. »Ich weiß nicht einmal, was es überhaupt kann.« Er setzte sich gerade auf seinen Stuhl. »Aber wer außer mir könnte sich überhaupt mit dieser Kreatur messen?«
Sintjop betrachtete ihn, dann entzündete er die Pfeife mit einem Span und schmauchte, bis sein Kopf in den blauen Wolken verschwunden war. Durch den Dunst hindurch hätte man ihn für das jüngere Abbild Kalfaffels halten können.
»Du hast es dir immer noch nicht verziehen, Seskahin?«
»Was verziehen?«, meinte Lorin verdutzt. »Du gibst dir die Schuld an dem, was auf der Lichtung geschah«, sagte er ihm auf den Kopf zu. »Du denkst, dass du das Wesen zum Leben erweckt hast, und unternimmst alles, um dich von deiner vermeintlichen Schuld reinzuwaschen.« Sein Gesicht durchdrang die Schwaden. »Sei unbesorgt, Seskahin. Niemand gibt dir Schuld.«
Lorin lächelte schief. »Ich gebe mir die Schuld, Sintjop, und das wiegt viel schlimmer.«
»Du wirst nicht allein
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