Trügerischer Friede
Halt. Er glitt über das Geröll, als sei es mit Öl eingerieben worden. Dann schoss er über den Rand des Loches. Sein freier Fall geradewegs in den Schlund, in den sein Sohn Govan Menschen gleich welchen Alters hinab geschleudert hatte, um Tzulans Gunst zu erringen und die Kreatur zu speisen, die in dieser Röhre lebte, sollte beginnen.
Warmer Wind strich ihm entgegen, es roch nach feuchter Erde und alter Fäulnis. Lodrik erinnerte sich, wie sich damals der Boden der Kathedrale aufgetan und den verräterischen Oberen des Ulldrael-Ordens verschlungen hatte. Damit hatten die Opferungen begonnen. Unvermittelt wurde sein Sturz gedämpft. Wurzeln, die aus der Erde in die Röhre wuchsen, bildeten
ein Geflecht, peitschten und bremsten ihn gleichermaßen,
rissen ihm die Kleider in winzigen Fetzen vom Leib und verhinderten, dass er mit enormer Wucht auf dem von Knochen bedeckten Boden des Lochs zerschellte. Eine dickere Wurzel traf ihn am Kopf, sein Blick wurde unscharf. Er meinte, an einem großen Schatten vorbeizufallen, dann prallte er auf. Lodrik versank in dem Berg aus morschen Knochen und Schädeln, die selbst unter seinem geringen Gewicht wie dünne Zweige brachen; andere zerbröckelten, und wieder andere flogen in hohem Bogen davon. Er verlor das Bewusst-sein.
Als er erwachte, besaß er keinerlei Vorstellung, wie lange er in dem riechenden Haufen gelegen hatte. Fluchend wühlte er sich an die Oberfläche, stand auf wackligem Boden. Klappernd und hölzern klickend, fielen einzelne Knochenstückchen von ihm ab und zurück auf den Stapel. Sein ganzer Körper schmerzte, blutete aus vielen kleinen Schnitten und Kratzern. Lodrik kümmerte sich nicht weiter darum.
Angespannt erwartete er den Angriff des Wesens, in dessen Behausung er ungewollt eingedrungen war. Seine Augen verrieten ihm trotz der Dunkelheit, dass er sich in einer gewaltigen Höhle befand, in der sich die sterblichen Überreste tausender Menschen befanden, welche die halbe Höhle ausfüllten. An einem Ende der Kaverne sah er eine Ausbuchtung, die zu einem Gang führen mochte, über sich erkannte er in weiter, weiter Entfernung einen stecknadelkopfgroßen hellen Punkt. Dort und unerreichbar befand sich die Oberfläche.
»Bardric!«, hörte er seinen Namen über sich. »Endlich habe ich dich gefunden.«
Lodrik hob den Kopf und sah zu seiner Verwunderung ein blassblaues Seelenlicht durch den Schacht nach unten geflogen kommen.
»Wer bist du?« Er streckte die Hand aus und sandte ihr einen lautlosen Befehl, sie musste heran schweben und über seinen Fingern verharren, bis er ihr erlaubte, wieder ihrer Wege zu ziehen. »Und wieso folgst du mir ausgerechnet an diesen Ort?« Eine vage Idee befiel ihn. »Zabranskoi?«
»Ja«, giftete die Seele. »Ich bin Soscha Zabranskoi, und eine von deiner Sorte hat mich umgebracht!«
Lodrik zog die Hand und damit die Seele näher zu sich heran. »Du irrst dich. Ich habe dir nichts .. «
»Ich sagte nicht, dass du es warst«, fiel sie ihm gewohnt unfreundlich in die Rede. »Es war eine Frau. Sie trug Schwarz und reiste in der Kutsche mit dem Wappen Borasgotans.« Die Seele versuchte, sich von Lodriks Einfluss zu befreien, aber es gelang ihr nicht. »Sie war eine Nekromantin und hat mich getötet, weil ich ihr Geheimnis entdeckte. Das nehme ich zumindest an.«
Er runzelte die Stirn. »Das kann nur Elenja gewesen sein. Die Kabcara von Borasgotan soll eine Nekromantin sein?« »Eine mächtige Nekromantin«, fügte sie hinzu. »Wer sollte auf Ulldart in der Lage sein, Nekromantie zu betreiben?«, wunderte sich Lodrik. »Es gibt ja kaum Menschen auf dem Kontinent, die sich mit herkömmlicher Magie beschäftigen.« In Gedanken ging er diejenigen durch, die in Frage kämen. Govan war unwiderruflich tot, die Nachricht von Zvatochnas Ableben hatte sie wenige Tage nach der Schlacht erreicht, und Lorin befand sich höchst lebendig auf Kalisstron.
»Du bist jedenfalls mit deinen schrecklichen Künsten nicht mehr einzigartig, Bardric. Und dennoch ist es kein Grund zum Jubeln.« Soscha wand sich. »Hör auf, mir Fesseln anzulegen!«
»Warum kommst du zu mir?« Er hob sie dichter vor
die Augen. »Du willst, dass ich dir helfe«, verstand er ihr Auftauchen. »Ich kann nichts mehr für dich tun, Soscha
Zabranskoi. Du bist tot.«
»Kann man Seelen zurück in ihren Körper bringen?«, verlangte sie zu wissen. »Ich möchte weiterleben!
Es gibt zu viel zu tun, und ich will die Frau zur Rechenschaft ziehen, die mich
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