Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
dieses Gesicht und diese Stimme. Nicht erst seit gestern. Schon seit längerem. Aber sie konnte sich nicht erinnern, wo sie diesem Mann begegnet war.
»Mama hat Mandy kurz alleingelassen, um dich zu besuchen.« Er wandte den Kopf zur Seite und bedeutete jemandem, näher heranzukommen. »Du mußt dich hierhin stellen, Mama, sonst kann sie dich nicht sehen.«
Das außergewöhnlich hübsche Gesicht einer Frau mittleren Alters erschien in Averys Blickfeld. Das weiche, dunkle Haar der Frau war in sehr schmeichelnder Weise gezeichnet durch einen silbernen Streifen.
»Hallo, Carole. Wir sind alle erleichtert, daß es dir schon wieder besser geht. Tate hat gesagt, daß die Ärzte zufrieden sind mit deinen Fortschritten.«
Tate Rutledge, natürlich!
»Erzähl ihr von Mandy, Mama.«
Pflichtschuldig berichtete die Fremde von einer weiteren fremden Person. »Mandy hat heute morgen fast ihr ganzes Frühstück gegessen, damit sie besser schläft. Der Gips an ihrem Arm ist ihr lästig, aber ich denke, das war zu erwarten. Sie ist der Liebling
der Kinderabteilung und wickelt das ganze Personal um den Finger.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie tupfte sie mit einem Papiertaschentuch weg. »Wenn ich daran denke, was...«
Tate Rutledge legte seiner Mutter den Arm um die Schultern. »Aber es ist nicht so gekommen, Gott sei Dank.«
Da wurde Avery klar, daß es wohl Mandy Rutledge gewesen war, die sie aus dem Flugzeugwrack getragen hatte. Sie erinnerte sich wieder an die Schreie des Kindes, während es wie wild versucht hatte, sich von seinem verklemmten Sicherheitsgurt zu befreien. Als er sich schließlich öffnete, hatte sie das völlig verstörte Kind an sich gedrückt und war mit der Hilfe eines weiteren Passagiers durch den dichten, beißenden Rauch gestolpert auf einen Notausgang zu.
Weil sie das Kind trug, hatte man sie für Mrs. Carole Rutledge gehalten. Aber das war nicht alles. Sie hatten auch die Plätze getauscht.
Ihr Gehirn begann ungeschickt, die Teile eines Puzzles zusammenzusetzen, das nur sie kannte. Sie erinnerte sich daran, daß auf ihrer Bordkarte die Nummer eines Fensterplatzes gestanden hatte, doch als sie zu ihrer Reihe kam, saß dort schon eine Frau. Sie hatte nicht versucht, das zu korrigieren, sondern sich statt dessen auf den Sitz am Gang gesetzt. Und das Kind saß auf dem Sitz zwischen ihnen beiden.
Die Frau hatte dunkles, schulterlanges Haar gehabt, ganz ähnlich wie Avery. Und sie hatte ebenfalls dunkle Augen. Sie waren sich ähnlich. Genaugenommen hatte die Flugbegleiterin sogar gefragt, welche der beiden Frauen die Mutter und welche die Tante wäre, weil sie Avery und Carole Rutledge für Schwestern gehalten hatte.
Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Mrs. Rutledge war vermutlich bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Man hatte sie verwechselt wegen des Kindes und der Änderung der Sitzplätze, von der niemand etwas wußte. Mein Gott, sie mußte es ihnen irgendwie mitteilen!
»Vielleicht gehst du jetzt besser zurück, bevor Mandy Angst bekommt, Mama«, sagte Tate. »Sag ihr, daß ich auch bald komme.«
»Also, dann auf Wiedersehen, Carole«, sagte die Frau zu ihr. »Ich bin sicher, daß du nach der Operation von Dr. Sawyer genauso hübsch sein wirst wie zuvor.«
Ihre Augen lächeln auch nicht , dachte Avery, als die Frau verschwand.
»Bevor ich es vergesse«, sagte Tate und trat wieder nah ans Bett, so daß sie ihn sehen konnte, »Eddy, Vater und Jack lassen dich grüßen.
Jack ist heute morgen nach Hause gefahren«, fuhr Tate fort, ohne zu wissen, daß er nicht mit seiner Frau sprach. »Ich bin sicher, daß er sich Sorgen wegen Dorothy Rae macht. Außerdem weiß man nie, was Fancy tut, selbst wenn Eddy sie bei den Freiwilligen in der Wahlkampfzentrale mitarbeiten läßt. Du wirst sie alle nicht sehen dürfen, solange du noch in der Intensivstation bist, aber ich nehme auch nicht an, daß du sie besonders vermissen wirst, oder?«
Er dachte, daß sie genau wußte, über wen oder was er redete. Wie konnte sie ihm nur mitteilen, daß sie auch nicht die leiseste Ahnung hatte, was er meinte? Sie kannte diese Leute nicht. Sie mußte irgendwie Irish verständigen. Dieser Mann mußte erfahren, daß er Witwer war.
»Und was den Wahlkampf betrifft, Carole, wollte ich dir auch noch etwas sagen.« Angesichts der Bewegung, die seine Schultern machten, nahm sie an, er habe die Hände in die Hosentaschen gesteckt. »Ich werde ihn fortsetzen wie geplant. Vater, Jack und Eddy sind
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