Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
einverstanden, sie haben mir ihre Unterstützung zugesagt. Es wird ein harter Kampf werden. Aber ich bin dazu verpflichtet.«
Tate Rutledge hatte in letzter Zeit Schlagzeilen gemacht. Daher kannte sie ihn, auch wenn sie ihm persönlich nie begegnet war. Er hoffte darauf, im Mai die Vorwahlen zu gewinnen, und wollte dann bei der Wahl im November gegen den amtierenden Senator antreten.
»Ich werde meine Verantwortung dir und Mandy gegenüber nicht vergessen, während ihr noch auf dem Weg der Besserung seid, aber ich habe mich mein ganzes Leben lang darauf vorbereitet, eines Tages Mitglied des Kongresses zu werden. Ich möchte
nicht noch sechs Jahre bis zur nächsten Wahl warten, sonst verliere ich all den Schwung und die Wähler, die ich jetzt schon gewonnen habe. Jetzt ist der richtige Augenblick.«
Er sah auf seine Armbanduhr und sagte: »Ich denke, ich gehe jetzt besser. Ich habe Mandy versprochen, daß ich sie mit Eis füttere. Jetzt, da ihre Arme eingegipst sind und so weiter — na ja«, fuhr er fort und sah auf ihre verbundenen, in Schienen aufgehängten Hände, »du weißt, was ich meine. Heute hat sie die erste Sitzung beim Psychologen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, setzte er noch schnell hinzu, »das sind vor allem Vorsichtsmaßnahmen.«
Er hielt inne und sah sie vielsagend an. »Darum glaube ich auch, daß es besser ist, wenn sie dich jetzt noch nicht sieht. Ich weiß, das hört sich grausam an, aber all diese Verbände würden ihr Angst einjagen. Wenn der Chirurg erst einmal mit der Arbeit an deinem Gesicht begonnen hat, werde ich sie öfter auf einen kurzen Besuch vorbeibringen.«
Avery versuchte zu sprechen, aber der Atemtubus war seitlich an ihrem Mund festgeklebt. Sie hatte gehört, wie eine Krankenschwester sagte, durch den scharfen Rauch seien ihre Stimmbänder vorübergehend geschädigt worden. Und den Kiefer konnte sie auch nicht bewegen. Sie blinzelte angestrengt, um ihre Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen.
Er mißverstand den Grund dafür und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Ich verspreche dir, Carole, daß deine Entstellung nur vorübergehend ist. Dr. Sawyer sagt, daß es viel schlimmer aussieht, als es eigentlich ist. Er kommt heute noch vorbei, um dir zu erklären, wie er vorgehen wird. Er weiß, wie du früher ausgesehen hast, und garantiert, daß du am Ende seiner Arbeit wieder genauso aussehen wirst.«
Sie versuchte den Kopf zu schütteln. Tränen der Angst und des Schreckens rannen aus ihrem Auge. Eine Schwester kam herein und schob ihn zur Seite. »Ich glaube, Sie sollten sie jetzt besser ruhen lassen, Mr. Rutledge. Ich muß sowieso ihre Verbände wechseln.«
»Ich bin dann bei meiner Tochter.«
»Ja, wir werden Sie rufen, wenn wir Sie brauchen. Ach ja, da
fällt mir noch ein, daß man mich von unten angerufen hat, um Sie daran zu erinnern, daß Mrs. Rutledges Schmuck noch im Krankenhaussafe liegt. Sie haben ihn ihr bei ihrer Ankunft in der Unfallstation abgenommen.«
»Danke, ich werde ihn später abholen.«
Nein, jetzt! Geh und hol ihn jetzt , schrien Averys Gedanken. Das war sicher nicht Carole Rutledges Schmuck im Safe des Krankenhauses, sondern ihrer. Und wenn sie ihn sahen, würden sie bemerken, daß sie einen furchtbaren Irrtum begangen hatten.
Aber was geschah, wenn Mr. Rutledge nicht den Schmuck seiner Frau abholte, bevor der plastische Chirurg aus ihrem Gesicht das von Carole Rutledge machte?
Das war der letzte bewußte Gedanke, bevor das Schmerzmittel wieder die Oberhand gewann.
Tate wird seinen Amtsantritt nicht erleben .
Sie erlebte den Alptraum noch einmal. Sie versuchte verzweifelt, ihn abzuschütteln. Wieder konnte sie ihn nicht sehen, aber sie spürte seine finstere Gegenwart ganz in ihrer Nähe. Sein Atem strich über ihr Auge.
Es wird nie einen Senator Tate Rutledge geben. Tate wird es nicht erleben. Senator Tate Rutledge wird vorher sterben. Es wird nie dazu kommen... nie erleben...
Avery erwachte mit einem Schrei. Es war natürlich ein lautloser Schrei, aber er dröhnte durch ihren Schädel. Sie öffnete das Auge und erkannte die Lichter über sich, den Krankenhausgeruch, das zischende Geräusch ihres Beatmungsgeräts. Sie hatte geschlafen, also war es diesmal wirklich ein Alptraum gewesen.
Aber gestern abend war es Wirklichkeit. Gestern abend hatte sie ja noch nicht einmal Mr. Rutledges Vornamen gekannt! Sie hätte nicht davon träumen können, wenn sie ihn nicht gekannt hätte, und sie erinnerte sich ganz
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