Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
präzise an jene drohende, gesichtslose Stimme, die ihr voller Haß ins Ohr geflüstert hatte.
Spielte ihr Gehirn ihr Streiche, oder war Tate Rutledge wirklich in Gefahr? Wer konnte schon seinen Tod wollen?
Sie mußte eine Antwort finden. Aber ihre Fähigkeit zum logischen Denken war ihr scheinbar zusammen mit den einfachen
körperlichen Funktionen verlorengegangen. Sie schaffte es einfach nicht.
Avery empfand schon beinahe Widerwillen für dieses ihr noch zusätzlich zu ihren eigenen Schwierigkeiten aufgebürdete Problem. Hatte sie nicht schon genug Sorgen? Mußte sie sich auch noch um die Sicherheit eines Bewerbers um den Senatorenposten kümmern?
Schließlich gewann die dunkle Leere am Rande ihres Bewußtseins wieder die Oberhand. Sie kämpfte dagegen an, aber schließlich gab sie auf und ließ sich in die friedliche Stille hinabziehen.
KAPITEL 5
»Ihre Reaktion überrascht mich überhaupt nicht. Von Unfallopfern muß man derartiges erwarten.« Dr. Sawyer, der bekannte plastische Chirurg, lächelte ruhig. »Sie müssen sich nur vorstellen, wie Sie sich fühlen würden, wenn Ihr gutaussehendes Gesicht entstellt wäre.«
In diesem Augenblick hätte Tate am liebsten die selbstgefällige Miene des Chirurgen ausgelöscht. Trotz seines guten Rufes schien der Mann Eiswasser in den Adern zu haben.
Er hatte einige der berühmtesten Gesichter des Staates korrigiert, unter anderem Töchter aus guten Häusern, die ebensoviel Geld wie Eitelkeit besaßen, Mannequins und Fernsehstars. Auch wenn sein Ruf wirklich gut war, gefiel Tate die herablassende Art nicht, mit der er auf Caroles Befürchtungen reagierte. »Ich habe versucht, mich in Caroles Lage zu versetzen«, erklärte er. »Unter den gegebenen Umständen finde ich, daß sie ihr Los sehr gut trägt.«
»Du widersprichst dir, Tate«, bemerkte Nelson. Er saß neben Zee auf einem Sofa im Wohnzimmer der Intensivstation. »Du hast gerade Dr. Sawyer erklärt, daß Carole sehr betroffen wirkte angesichts der bevorstehenden Operation.«
»Ich weiß, daß das widersprüchlich klingt. Ich meine, daß sie den Bericht über den Absturz und ihren und Mandys Zustand sehr gut aufzunehmen schien. Doch als ich ihr von der geplanten
Operation an ihrem Gesicht erzählte, begann sie zu weinen. Mein Gott«, sagte er und strich sich mit einer Hand durchs Haar, »ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mitleiderregend sie aussieht, wenn sie aus diesem einen Auge weint. Es ist wirklich unglaublich.«
»Ihre Frau war eine Schönheit, Mr. Rutledge«, sagte der Doktor. »Die Entstellung entsetzt sie. Natürlich hat sie Angst, den Rest ihres Lebens auszusehen wie ein Monster. Ein Teil meiner Pflicht besteht darin, ihr zu versichern, daß ihr Gesicht wiederhergestellt, vielleicht sogar noch verschönt wird.«
Sawyer hielt inne, um jeden von ihnen anzusehen. »Ich habe das Gefühl, daß Sie sich unschlüssig sind. Das darf nicht sein. Ich brauche Ihre Mitarbeit und Ihr ganzes Vertrauen in meine Fähigkeiten.«
»Wenn Sie nicht mein Vertrauen besäßen, hätte ich mich gar nicht um Ihre Hilfe bemüht«, stellte Tate klar. »Ich glaube nicht, daß es Ihnen an Fähigkeiten fehlt, nur an Mitgefühl.«
»Das bewahre ich mir für meine Patienten auf und verschwende keine Zeit und Energie damit, ihren Familien etwas vorzumachen, Mr. Rutledge. Das überlasse ich Politikern wie Ihnen.«
Tate und der Chirurg sahen sich in eisigem Schweigen an. Schließlich lachte Tate trocken. »Ich mache auch niemandem etwas vor, Dr. Sawyer. Wir brauchen Sie. Darum sind Sie hier. Sie sind zwar der großspurigste Hund, der mir je begegnet ist, aber, so wie es aussieht, auch der beste. Also werde ich mit Ihnen zusammenarbeiten, damit Carole wieder so aussehen kann wie vorher.«
»Also gut«, sagte der Chirurg, ohne durch die Beleidigung betroffen zu wirken, »dann wollen wir sie jetzt besuchen.«
Als sie in die Intensivstation kamen, ging Tate voraus und stand zuerst an ihrem Bett. »Carole? Bist du wach?«
Sie reagierte sofort, indem sie das Auge öffnete. Soweit er das sagen konnte, war sie bei klarem Bewußtsein. »Hallo. Mutter und Vater sind auch hier.« Er trat zur Seite. Sie kamen zum Bett.
»Hallo, Carole«, sagte Zee. »Mandy läßt dir bestellen, daß sie dich liebhat.«
Tate hatte vergessen, seine Mutter zu bitten, nichts von Mandys erster Sitzung mit dem Kinderpsychologen zu erzählen. Sie war nicht sehr gut verlaufen, aber glücklicherweise war Zee empfindsam genug, nichts davon zu erwähnen. Sie
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