Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
der ein kleines bißchen neben der Mitte lag. Sie sah ihn gern an. Tate Rutledge war, mehr als ihr begabter Chirurg oder die fähigen Krankenschwestern, zum Zentrum ihrer kleinen Welt geworden.
Wie versprochen konnte sie auf dem linken Auge jetzt wieder sehen, seit der Knochen zu seiner Unterstützung wiederaufgebaut worden war. Drei Tage nach der Operation waren die Fäden an ihren Augenlidern gezogen worden. Man hatte ihr versprochen, daß die Einlagen aus ihrer Nase und die Schiene morgen entfernt würden.
Tate hatte dafür gesorgt, daß jeden Tag frische Blumen in ihr Zimmer gebracht wurden, als wolle er ein Zeichen für jeden
Schritt auf dem Weg zur Genesung setzen. Er lächelte immer, wenn er hereinkam. Und er vergaß nie, ihr ein kleines Kompliment zu machen.
Er tat Avery leid. Sie spürte genau, daß ihn die Besuche in ihrem Zimmer mitnahmen. Und doch glaubte sie, daß sie sterben würde, wenn er nicht mehr zu ihr käme.
Es gab keine Spiegel im Zimmer — nicht einmal eine spiegelnde Oberfläche, und sie war sicher, daß das Absicht war. Sie hätte schrecklich gern gewußt, wie sie aussah. War ihr abstoßendes Äußeres der Grund für die Abneigung, die zu verbergen Tate sich solche Mühe gab?
Wie bei allen Menschen mit einer körperlichen Behinderung waren auch bei ihr die Sinne schärfer geworden. Sie hatte ein sehr feines Gefühl dafür entwickelt, was Menschen dachten und empfanden. Tate war freundlich und rücksichtsvoll zu seiner ›Frau‹. Das verlangte die einfache Höflichkeit, und doch bestand eine spürbare Distanz zwischen ihnen, die Avery nicht verstand.
»Kann ich sie mitbringen?«
Er saß auf ihrer Bettkante, in gebührendem Abstand von ihrem gebrochenen Bein. Seine Augen waren graugrün, sein Blick direkt und entwaffnend. Sie fand, daß er ein außergewöhnlich attraktiver Mann war, während sie ihn so objektiv wie möglich zu betrachten versuchte.
Wie konnte sie ihm seine Bitte abschlagen? Er war so nett zu ihr gewesen. Selbst wenn das kleine Mädchen nicht ihre Tochter war, würde sie dies eine Mal so tun, als wäre sie Mandys Mutter.
Sie nickte zustimmend, was sie seit ihrer Operation wieder konnte.
»Gut.« Sein plötzliches, strahlendes Lächeln kam von Herzen. »Ich habe bei der Oberschwester nachgefragt, und sie hat gesagt, daß du jetzt wieder deine eigene Kleidung tragen kannst, wenn du möchtest. Also habe ich mir die Freiheit genommen, ein paar von deinen Nachthemden und Morgenröcken einzupacken. Vielleicht wäre es besser für Mandy, wenn du etwas tragen würdest, was sie kennt.«
Avery nickte noch einmal.
Eine Bewegung an der Tür zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Sie erkannte den Mann und die Frau als Tates Eltern. Nelson und Zinnia oder Zee, wie sie alle nannten.
»Ja, was haben wir denn da?« Nelson durchquerte vor seiner Frau das Zimmer und stellte sich ans Fußende des Bettes. »Du siehst prima aus, wirklich prima, nicht wahr, Zee?«
Zees Blick traf den von Avery. Freundlich meinte sie: »Ja, und sogar deutlich besser als gestern.«
Avery konnte Komplimente nicht leiden, schließlich war ihr klar, daß sie nach wie vor deutlich wie ein Opfer eines Flugzeugabsturzes aussah.
Offensichtlich spürte Tate ihr Unbehagen, denn er wechselte das Thema. »Sie ist einverstanden, daß Mandy sie besucht.«
Zee sah mit einem Ruck zu ihrem Sohn. »Bist du sicher, daß das richtig ist, Tate? Sowohl in Caroles als auch in Mandys Sinne?«
»Nein, ich bin nicht sicher. Ich klammere mich an einen Strohhalm.«
»Was sagt Mandys Psychologin dazu?«
»Wen interessiert schon, was sie sagt?« fragte Nelson heftig. »Wie sollte die besser wissen, was für ein Kind gut, ist als der Vater?« Er klopfte Tate auf die Schulter. »Ich glaube, du hast recht. Es wird dem Kind bestimmt verdammt guttun, wenn es seine Mutter sieht.«
Avery teilte Zees Bedenken, konnte es aber nicht zum Ausdruck bringen. Hoffte nur, daß die Geste, die sie um Tates willen beschlossen hatte, den empfindlichen Gefühlen seiner Tochter nicht mehr schaden als guttun würde.
Zee wanderte durch das helle Zimmer und goß die Blumen, die sie nicht nur von Tate bekommen hatte, sondern auch von vielen anderen Leuten, die sie nicht einmal kannte. Da Caroles Familie nie erwähnt worden war, nahm sie an, daß es keine gab.
Nelson und Tate diskutierten über den Wahlkampf — ein Thema, das ihnen offenbar sehr am Herzen lag. Wenn sie Eddy erwähnten, stellte sich Avery immer den glattrasierten, makellos gekleideten
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