Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
Mann vor. Er hatte sie zweimal in Tates Begleitung besucht. Er schien ein netter Kerl zu sein, eine Art Stimmungsmacher für alle.
Tates Bruder hieß Jack. Er war älter und ein viel nervöserer Typ als Tate. Vielleicht sah es auch nur so aus, weil er während seines Aufenthalts bei ihr immer wieder Entschuldigungen gestammelt hatte, weil seine Frau und seine Tochter nicht mitgekommen waren.
Avery hatte verstanden, daß Dorothy Rae, Jacks Frau, ständig indisponiert war, obwohl niemand je von einer Krankheit gesprochen hatte. Fancy war offensichtlich der Zankapfel der ganzen Familie. Avery hatte aus verschiedenen Bemerkungen geschlossen, daß sie zwar alt genug war, um Auto zu fahren, aber nicht alt genug, um allein zu leben. Sie lebten alle zusammen eine Fahrstunde von San Antonio entfernt. Sie erinnerte sich undeutlich an Berichte über Tate, in denen eine Ranch erwähnt wurde. Die Familie hatte offensichtlich Geld und entsprechend viel Ansehen und Macht.
Avery betrachtete ihre Gesichter genau. Sie lächelten zögernd oder bemüht. Tates Familie behandelte seine Frau höflich, aber Avery spürte deutlich eine unterschwellige Abneigung.
»Das ist aber ein hübsches Nachthemd«, sagte Zee und holte Averys Aufmerksamkeit wieder in die Gegenwart zurück. Sie packte gerade die Sachen aus, die Tate mitgebracht hatte, und hängte sie in den schmalen Schrank. »Vielleicht solltest du das morgen für Mandys Besuch anziehen.«
Avery nickte leicht.
»Bist du bald fertig, Mama? Ich glaube, sie wird müde.«
»Ja, wir gehen jetzt besser. Wiedersehen, Carole«, sagte Zee.
Sie verschwanden. Tate setzte sich wieder auf die Bettkante. Er wirkte erschöpft, und Avery wünschte, sie hätte den Mut, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, aber sie schaffte es nicht. Er berührte sie nur, wenn er sie trösten wollte — ganz sicher nie aus Zuneigung.
»Wir kommen am Nachmittag, wenn Mandy ihren Mittagsschlaf hinter sich hat.« Er hielt fragend inne, sie nickte. »So ungefähr um drei Uhr. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich allein mit ihr komme.«
Er sah zur Seite. »Ich habe keine Ahnung, wie sie reagiert, Carole, aber denk daran, was sie durchgemacht hat. Ich weiß, daß
du auch viel durchgemacht hast — schrecklich viel —, aber du bist erwachsen. Du kannst eher damit fertig werden als sie.«
Er sah ihr wieder in die Augen. »Sie ist noch ein kleines Mädchen, vergiß das nicht.« Dann richtete er sich auf und lächelte kurz. »Aber ich glaube ganz fest, daß die Begegnung gut ausgehen wird.«
Er stand auf, um zu gehen. Wie üblich, wenn er sie verließ, empfand Avery einen plötzlichen Anflug von Panik. Er war ihre einzige Verbindung zur Welt. Er war ihre einzige Wirklichkeit. Wenn er fortging, verließ sie auch ihr Mut und sie fühlte sich allein und verlassen.
»Ich wünsche dir einen ruhigen Abend und eine gute Nacht. Also bis morgen.«
Zum Abschied streifte er ihre Fingerspitzen mit den seinen, aber er küßte sie nicht. Er küßte sie nie. Es war auch nicht allzuviel von ihr zum Küssen zugänglich, aber Avery dachte sich, daß ein Mann sicher eine Möglichkeit gefunden hätte, wenn er wirklich wollte.
Die Einsamkeit bedrängte sie von allen Seiten. Der einzige Weg, um damit fertig zu werden, war nachzudenken. Seine Carole lag zweifellos in einem Grab, in dem alle Avery Daniels vermuteten. Wie sollte sie ihm das sagen?
Und wie konnte sie ihm sagen, daß jemand aus seiner engsten Umgebung seinen Tod wollte?
Sie wußte, daß es kein Alptraum gewesen war. Es war wirklich jemand bei ihr gewesen. Sie hatte die Worte genau in Erinnerung behalten. Der finstere Ton und die Bedrohung hatten sich ganz deutlich in ihr Gedächtnis gebrannt. Ihr Besucher hatte gemeint, was er gesagt hatte, da gab es keinen Zweifel.
Er mußte jemand aus der Rutledge-Familie sein, denn nur der hätte die Intensivstation betreten dürfen. Aber wer war es? Keiner schien einen Groll gegen Tate zu hegen. Im Gegenteil, alle bewunderten ihn offensichtlich.
Sie stellte sich jeden einzelnen vor. Sein Vater? Undenkbar. Es war nicht zu übersehen, daß beide Eltern ihn abgöttisch liebten. Jack? Er schien nichts gegen seinen jüngeren Bruder zu haben. Eddy war zwar kein Blutsverwandter, wurde aber wie ein Familienmitglied
behandelt, und die gute Kameradschaft zwischen Tate und seinem besten Freund war deutlich erkennbar. Sie mußte Dorothy Rae und Fancy noch sprechen hören, aber sie war sich ziemlich sicher, daß eine Männerstimme die
Weitere Kostenlose Bücher