Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
klimpern, daß sie wie ein Engel aussah. »Ich hoffe, daß alles gutgeht.« Sie sah an seinem zärtlichen Lächeln, daß ihre Besorgnis ihn gerührt hatte. »Also, dann gute Nacht, Großvater, ich bin müde.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen, und überlegte schaudernd, daß er sie vermutlich auspeitschen würde, wenn er wüßte, womit ihre Lippen noch vor einer Stunde beschäftigt gewesen waren.
Sie ging bis zum Ende der Eingangshalle und bog nach links in einen Flur ab. Durch eine große Doppeltür am Ende betrat sie den Flügel des Hauses, den sie mit ihren Eltern bewohnte. Sie hatte die Hand schon auf die Türklinke ihres Zimmers gelegt, als Jack aus seinem Schlafzimmer schaute.
»Fancy?«
»Hallo, Daddy«, sagte sie mit einem süßen Lächeln.
»Hallo.«
Er fragte sie nicht, wo sie gewesen war, weil er es eigentlich gar nicht wissen wollte. Und darum sagte sie es ihm. »Ich war bei einem... Freund.« Die Sprechpause war strategisch plaziert und wurde tatsächlich von einem gequälten Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters belohnt. »Wo ist Mama?«
Er schaute über seine Schulter ins Zimmer hinter sich. »Schläft.«
Selbst von ihrem Standpunkt aus konnte Fancy das laute Schnarchen ihrer Mutter hören. Sie >schlief< nicht einfach nur, sie schlief ihren Rausch aus.
»Also, dann gute Nacht«, sagte Fancy.
Er sprach sie noch einmal an. »Wie geht’s in der Wahlkampfzentrale?«
»Prima.«
»Macht dir die Arbeit Spaß?«
»Doch, schon. So hab’ ich wenigstens was zu tun.«
»Du könntest doch wieder zurück ins College gehen.«
»Darauf scheiß’ ich.«
Er zuckte zusammen. »Also dann gute Nacht, Fancy.«
»Nacht«, erwiderte sie kurz und schloß geräuschvoll die Schlafzimmertür hinter sich.
KAPITEL 7
»Vielleicht bringe ich morgen Mandy mit.« Tate betrachtete sie genau. »jetzt, da die Schwellung etwas zurückgegangen ist, wird sie dich wohl erkennen.«
Avery erwiderte seinen Blick. Obwohl er jedesmal ermutigend lächelte, wenn er sie ansah, ahnte sie, daß ihr Anblick immer noch schrecklich sein mußte. Und es gab keine Verbände, die das verborgen hätten. Irish würde sagen, daß es bei ihrem Aussehen sogar einem Geier schlecht würde.
Trotzdem hatte Tate in der Woche seit ihrer Operation nie versucht, ihr auszuweichen. Diesen Charakterzug schätzte sie sehr an ihm. Sobald ihre Hände wieder einen Stift halten konnten, würde sie ihm einen Zettel schreiben, um ihm das zu sagen.
Vor ein paar Tagen hatte man die Verbände von ihren Händen entfernt. Sie war entsetzt gewesen, als sie die rohe, haarlose Haut betrachtet hatte. Ihre Nägel waren ganz kurz geschnitten, so daß ihre Hände anders aussahen, häßlich. Jeden Tag machte sie mit einem Gummiball Bewegungsübungen.
Man hatte sie inzwischen glücklicherweise auch von dem verhaßten Beatmungsgerät befreit. Zu ihrem Schrecken konnte sie trotzdem nicht einen Ton hervorbringen.
Aber die Ärzte beruhigten sie und versicherten ihr, daß sich ihre Stimmbänder langsam erholen würden.
Sie hatte weder Haare noch Zähne und nahm nur flüssige Nahrung durch einen Strohhalm zu sich.
»Was meinst du dazu?« fragte Tate sie. »Fühlst du dich einem Besuch von Mandy gewachsen?«
Er lächelte, aber Avery sah, daß er es nicht von Herzen meinte. Er tat ihr leid. Er gab sich solche Mühe, fröhlich und optimistisch zu wirken. Ihre ersten Erinnerungen beim Erwachen aus der Narkose waren die an seine Stimme, die ihr ruhig und ermutigend zuredete. Er hatte ihr damals und seither jeden Tag erklärt, daß die Operation hervorragend verlaufen war.
Aber sie war nach wie vor eine Gefangene in diesem Krankenhausbett, und das Gesicht der Avery Daniels war durch das einer anderen Frau ersetzt worden. Dieser immer wiederkehrende Gedanke trieb ihr heiße Tränen in die Augen.
Tate verstand sie falsch. »Ich verspreche dir, daß Mandy nicht lange hierbleibt, aber ich glaube, daß ihr ein Besuch bei dir guttun würde. Weißt du, sie ist inzwischen zu Hause. Alle verhätscheln sie, sogar Fancy. Aber nachts tut sie sich immer noch sehr schwer. Vielleicht faßt sie sich etwas, wenn sie dich sieht und erkennt, daß wir sie nicht belügen, wenn wir ihr sagen, daß du zurückkommst. Vielleicht glaubt sie, daß du in Wirklichkeit tot bist. Sie hat das nicht gesagt, aber sie sagt überhaupt nicht sehr viel.«
Gedankenverloren beugte er den Kopf und betrachtete seine Hände. Avery starrte ihn an. Seine Haare bildeten einen Wirbel,
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