Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
ziemlich egal, ob ihr Kunstwerk schön gefunden wurde oder nicht. Sie zeigte auf die Schiene über Averys Nase. »Was ist das da?«
»Das gehört zu den Verbänden, von denen dir Großmutter und ich erzählt haben, weiß du noch?« Zu Avery gewandt, meinte er: »Ich dachte, die Schiene würde heute entfernt.«
Avery drehte ihre Handfläche nach oben.
»Morgen?« fragte er.
Sie nickte.
»Wofür ist das?« fragte Mandy, immer noch fasziniert von der Schiene.
»Das ist so ähnlich wie der Gips an deinem Arm. Es beschützt Mamis Gesicht, so daß es heilen kann, so wie der Gips deinen Arm beschützt, damit der Knochen wieder zusammenwachsen kann.«
Avery nickte, schloß die Augen und ließ sie einen Moment geschlossen, in der Hoffnung, dadurch ein nachdrückliches Ja zum Ausdruck bringen zu können. Sie freute sich, das Kind zu sehen, das beinahe im Feuer gestorben wäre. Der Absturz hatte Narben auf seiner Seele hinterlassen, aber es hatte überlebt und würde auch die Angst und Schüchternheit überwinden. Avery spürte plötzlich eine Welle von Schuldgefühl und Kummer darüber, daß sie nicht die Frau war, für die sie sie hielten.
In einer dieser unerwarteten Bewegungen, wie sie nur ein Kind macht, streckte Mandy ihre Hand aus, um Averys geschundene Wange zu berühren. Tate griff nach ihrer Hand und führte sie ganz vorsichtig zu Averys Wange.
»Sei ganz vorsichtig, damit du Mami nicht weh tust.«
Tränen sammelten sich in den Augen des Kindes. »Mami hat sich weh getan.« Ihre Unterlippe begann zu zittern, und sie neigte sich zu Avery.
Avery konnte den Kummer des Kindes nicht ertragen. Als Reaktion auf einen plötzlichen mütterlichen Instinkt streckte sie die narbige Hand aus und strich Mandy über den Kopf. Sie übte gerade so viel Druck aus, wie es ihre Kraft und der Schmerz zuließen, und zog Mandys Kopf auf ihre Brust. Mandy folgte dem Druck gern, und der kleine Körper schmiegte sich an Averys Seite. Avery strich ihr weiter über den Kopf und gab beruhigende Laute von sich.
Der Trost in dieser Geste teilte sich dem Kind mit. Bald hörte es auf zu weinen, setzte sich wieder auf und verkündete kleinlaut: »Ich hab’ gar nicht mit der Milch gekleckert, Mami.«
Averys Herz schmolz. Sie hätte das Kind am liebsten in die Arme genommen und fest an sich gedrückt. Sie hätte ihr gern gesagt, daß verschüttete Milch gar nichts Schlimmes war. Statt dessen sah sie zu, wie Tate aufstand und Mandy wieder auf den Arm nahm.
»Wir wollen Mami heute nicht zu sehr anstrengen«, sagte er.
»Wirf ihr noch ein Handküßchen zu, Mandy.« Mandy schüttelte den Kopf, schlang scheu die Arme um Tates Hals und drückte ihr Gesicht an seine Schulter. »Also ein anderes Mal«, erklärte er Avery mit einer entschuldigenden Geste. »Ich komme gleich wieder.«
Er blieb ein paar Minuten weg und kam allein zurück. »Sie ist im Schwesternzimmer und vertilgt eine große Portion Eis.«
Er setzte sich auf die Bettkante, sah aber nicht Avery an, sondern seine Hände. »Da es so gut verlaufen ist mit Mandy, bringe ich sie vielleicht Ende der Woche noch mal mit. Wenigstens hatte ich das Gefühl, daß es gut verlaufen ist. Du auch?« Er sah sie kurz über seine Schulter an, um ihre Antwort abzuwarten. Sie nickte.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Händen zu. »Ich weiß nicht recht, wie Mandy sich gefühlt hat. Man kann überhaupt schwer sagen, was in ihr vorgeht. Wir scheinen einfach nicht zu ihr durchzudringen, Carole.« Die Verzweiflung in seiner Stimme brach Avery das Herz. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in den Händen. »Nichts funktioniert. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.«
Avery hob den Arm und strich über das Haar an seiner Schläfe.
Er zuckte zusammen, und sein Kopf fuhr herum. Avery zog ihre Hand so schnell zurück, daß ein scharfer Schmerz durch ihren Arm schoß. Sie stöhnte.
»Entschuldige«, sagte er und stand sofort auf. »Bist du in Ordnung? Soll ich jemanden rufen?«
Sie verneinte mit einer Kopfbewegung und rückte unsicher ihr Kopftuch zurecht. Mehr als je zuvor fühlte sie sich wehrlos und nackt. Sie wünschte, sie könnte ihre Häßlichkeit vor ihm verbergen.
Als er sich überzeugt hatte, daß sie keine Schmerzen mehr hatte, sagte er: »Mach dir keine Sorgen über Mandy. Mit der Zeit wird sie sich sicher erholen. Ich hätte nicht darüber reden sollen. Ich bin einfach müde. Der Wahlkampf wird anstrengender und... na ja, egal. Das sind meine Sorgen, nicht
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