Trümmermörder
erstaunt um. »Wo ist Ihr Wagen, Stave?«
»Das Benzin ist auch für die Polizei rationiert, Herr Lieutenant. Wir gehen meist zu Fuß oder nehmen die Straßenbahn. Von hier zur Reeperbahn ist es ein Spaziergang.«
»Hätte ich das gewusst, hätte ich mir einen Jeep genommen«, erwidert MacDonald und schnalzt bedauernd mit der Zunge.
»Und mit dem britischen Jeep wären wir dann auf der Reeperbahn von Puff zu Puff gefahren«, brummt Maschke. »Jede englische Streife würde vor uns salutieren.«
Stave schüttelt den Kopf, unwirsch. Dann verteilt er die Abzüge der Totenbilder; sie riechen noch nach Chemikalien.
»Gehen wir.«
Er schlägt den Mantelkragen hoch. Es ist inzwischen früher Nachmittag, und seit dem elenden Frühstück am Morgen hat er nichts mehr gegessen. Der Wind pfeift immer noch eisig durch die Ruinen. Stave fühlt sich, als sei er verprügelt worden. MacDonald, in gebügelter Uniform und mit rosigem Gesicht, sieht hingegen aus, als ginge er auf einen Verdauungsspaziergang – was wahrscheinlich auch zutrifft, denkt Stave. Maschke hat sich die zweite englische Zigarette zwischen die Lippen geklemmt und schlendert einige Schritte hinter ihnen her, so als gehöre er nicht dazu.
An einer schmutzigen Hauswand kleben gelbliche Zettel und Plakate, manche so groß wie Tischdecken: »Military Government – Germany/Law No 15«, liest Stave im Vorübergehen, »Militärregierung – Deutschland/Gesetz Nr. 15«. Zweisprachige Bekanntmachungen der Besatzungsbehörde. Routiniert überfliegt der Oberinspektor die Papiere. Nichts Neues. Plakate wie diese, dazu handschriftliche Zettel und Kreidekritzeleien auf nackten Mauern sind die Zeitungen, die wir uns verdient haben, denkt Stave. Die eigentliche Presse erscheint kaum ein-, zweimal wöchentlich, nur ein paar dünne Blätter, zu mehr reichen die Papiervorräte nicht. Ein deutsches Radio, so hat er gehört, soll erst in den nächsten Wochen wieder erlaubt werden. Und im Kino bringen die Wochenschauen vor allem die von Briten und Amerikanern gelieferten Filme.
Wie sonst erreicht man die Bürger, wenn man sein Anliegen nicht an die Hauswände pappt? Also pflastert die Militärregierung entlang aller größeren Straßen die Hauswände sowie alle noch unzerstörten Litfaßsäulen zu: neue Rationierungen, Veränderungen der Zeiten zur Ausgangssperre, neue Gesetze – möge kein Deutscher sagen, er hätte davon nichts gewusst! Und die Deutschen selbst machen es den neuen Herren notgedrungen nach: kleben Suchmeldungen nach verschollenen Verwandten, Tauschanzeigen, Wohnungsannoncen an die Ziegel. Der Bürgermeister lässt seine Verordnungen so verbreiten. Und wir Krimsches, sagt sich Stave, dekorieren das alles mit Verbrechervisagen und Totenfotos auf unseren Fahndungsplakaten.
Sie erreichen das Heiligengeistfeld, einen riesigen, schmutzigen Platz, schutzlos den kalten Böen ausgeliefert. Zwei grauschwarze Hochbunker ragen in den Himmel, massige Klötze wie Tempel einer untergegangenen, düsteren Religion. Ein schäbiges Schild zeigt an, dass im Erdgeschoss des einen Bunkers die Redaktion der »Nordwestdeutschen Hefte« untergebracht ist, doch niemand geht dort um diese Zeit ein oder aus. Über dem anderen Bunkerzugang prangt ein nur wenig größeres Schild: »Scala«. Und darunter das aktuelle Programm: »Tausend und eine Frau.« Ein Revue-Theater im Bunker, fast eintausend Plätze, leicht bekleidete Mädchen in Fantasiekostümen aus bemaltem Cellophan, sentimentale Schlager. Stave findet das Etablissement an gerade diesem Ort pervers. Zu der Stunde jedoch ist es ebenfalls wie ausgestorben.
Auch Hamburgs Amüsiermeile wirkt noch geisterhaft. Zwar wird das Licht schon fahl, doch niemand hat Strom für Leuchtschriften. Einige Kneipen und Varietés sind zerbombt: das »Panoptikum«, die »Volksoper«, das »Café Menke« in Ruinen. Aus Brettern und geretteten Ziegeln haben Kneipenwirte Buden in die Trümmer gebaut, erbärmliche Verschläge, in denen abends Männer, die immer noch nicht genug vom Schießen haben, mit Armbrüsten auf Scheiben anlegen können. Aber niemand versucht dort gerade sein Glück.
Trotzdem sind viele Menschen unterwegs. Frauen und Männer, auch viele Kinder in ausgewaschenen Mänteln, die an der Ecke Reeperbahn und Hamburger Berg scheinbar ziellos auf dem Bürgersteig schlendern, Kreise drehen, in den Himmel starren. Schwarzmarkt.
Als die drei Ermittler näher kommen, weichen die Menschen vor ihnen zurück, als hätten sie Aussatz. Stave
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