Trugschluss
Frage,
Kollege«, erwiderte er, »wir haben doch damals bei unserer Leiche in Hohenstadt
ein Schmuckstück gefunden. Erinnern Sie sich noch?«
»Ja, klar«, ereiferte sich der
Angesprochene, »klar, es war so ein Goldkettchen mit einem Klumpen oder mit
einer Kugel dran.«
»Mit einer Erdkugel«, berichtigte Häberle,
der jetzt wusste, dass ihn sein Gedächtnis nicht trog.
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Linkohr
nach. »Sind Sie auf eine Person gestoßen, die so etwas trägt?«
»Nicht ganz. Diese Person ist spurlos
verschwunden. Ich hab sie nur auf dem Foto gesehen.«
Schweigen in der Leitung. Linkohr schien
nachzudenken. Doch ehe sich Häberle verabschieden konnte, schob der
Jungkriminalist eine Frage nach: »Und wer ist es?«
»Dieser Joe Clearwood – der später diesen
Golf aus der Konkursmasse gekauft hat.«
Linkohr konnte sich seinen Lieblingsspruch
nicht verkneifen. »Wissen Sie, was das heißt?«, fragte er dann.«
Der Kommissar schwieg und wartete die
Antwort ab, die sich Linkohr selbst gab: »Zeitdilatation.« Jetzt war das Wort
endlich raus. Die Dehnung der Zeit. Häberle hatte es seit langem geahnt. Es
stand unausgesprochen zwischen ihnen. Nun, da sie sich nicht in die Augen sehen
konnten, hatte es der junge Mann gewagt, seine Theorie in den Raum zu stellen.
Der Kommissar stutzte für einen Moment und
schaute amüsiert zwei balzenden Erpeln zu, die sich um eine Entendame bemühten.
»Herr Kollege«, sagte Häberle ganz betont, »Sie dürfen sich gern mit Einsteins
komplizierter Materie befassen – aber denken Sie dran, was er gesagt hat: Es
kann keine Zeitreisen geben.« Er überlegte, ob er noch deutlicher werden
sollte, entschied sich dann aber für einen gemäßigten Hinweis: »Das wäre
theoretisch möglich, wenn es etwas gäbe, das sich schneller als das Licht
bewegen kann. Aber das gibt’s nicht.«
Linkohr zeigte sich hartnäckig, während
der Kommissar an die horrenden Handy-Kosten bei Auslandsgesprächen dachte. »Aber
eine Überlegung sei doch erlaubt, eine verrückte und fantastische, das geb ich
zu«, meinte der junge Mann, »aber irgendwie spielt doch dieser Joe Clearwood
eine Rolle. Er trägt, wie Sie sagen, dieses Halskettchen, er hat diesen Golf
gekauft – und nun ist er verschwunden.« Linkohr machte eine Pause, gab seinem
Zuhörer aber keine Chance, das Gespräch abzuwürgen. »Wir sollten uns von diesem
Joe eine DNA-Analyse besorgen.«
Häberle war’s zu viel des Guten. Er
erwiderte mit deutlicher Ironie in der Stimme: »Und dann werden wir
selbstverständlich feststellen, dass sein Erbgut mit dem des Toten von
Hohenstadt identisch ist. Mit einer Person, die seit vier Jahren mausetot ist.«
»Morgen«, ergänzte Linkohr frech. »Morgen
jährt sich’s zum vierten Mal. Haben Sie das schon vergessen?«
Häberle war zum ersten Mal wütend auf den
jungen Kollegen, ließ ihn dies aber nicht merken. Er bedankte sich und
versprach, sich am Montagfrüh »in alter Frische im Dienst« zu melden.
Wenig später wartete der rote Polo Brobeils vor der
Campingplatz-Schranke. Das Zusammentreffen auf dem Bernardino, so dachte sich
der Kriminalist, war allein schon wegen des handlichen Fahrzeugs ein Glücksfall
gewesen. Mit dem sperrigen Wohnmobil wäre es nur mühsam möglich gewesen, all
die Punkte anzufahren, die sie besuchen wollten. Häberle hatte Vollmers Adresse
auf einen Schmierzettel geschrieben und sich auf dem Stadtplan orientiert, den
es in der Rezeption des Campingplatzes gab. Sie mussten sich im samstäglichen
Vormittagsverkehr quer durch Lugano ›quetschen‹, hinab an den See und dann in
Richtung ›Funiculair‹, der Standseilbahn, deren Kabine auf einer
Zahnradkonstruktion auf den Monte Bré hinaufzuckelte. Auf Geheiß von Häberle,
der sich für khakifarbenen Freizeitlook entschieden hatte, bog der schwitzende
Theologe in eine aufwärtsführende Seitengasse ein. So jedenfalls hatte sich
Häberle die Situation vom Stadtplan gemerkt. Zwischen den Häusern taten sich
jetzt mit zunehmendem Anstieg traumhafte Ausblicke auf den See und die
Altstadt-Dächer auf. Drüben präsentierte sich der San Salvatore im schönsten
Frühlingslicht.
Das gesuchte Haus war ein schneeweißer
Wohnblock, terrassenartig an den Hang gelehnt, drei Stockwerke hoch. Brobeil
stellte den Polo ins Halteverbot, weil es ansonsten keinen Parkplatz gegeben
hätte. Sie stiegen aus und gingen zu der Haustür, die sich abseits der Zufahrt
zu einer Tiefgarage befand. In einem schmalen Pflanzbeet
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