Trugschluss
Brobeil, der seitlich Platz genommen hatte, war
das Interesse Häberles an der Frau hinter der Theke nicht entgangen. Die Haare
waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Könnte Anja sein«, erklärte der
Theologe.
Der Kriminalist staunte. »Wer bitte?«
»Anja. Hat mir Vollmer erzählt. Sie sei
der einzige Mensch, mit dem er über seine Probleme reden könne. Anja sei die
Tochter der Wirtsleute hier.« Der Theologe drehte sich in Richtung Theke, wo
die junge Frau inzwischen den Korken aus der Weinflasche gezogen hatte.
»Da sind Sie ja bestens informiert«, lobte
Häberle und war insgeheim froh, hier nicht allein im Nebel stochern zu müssen.
»Glauben Sie eigentlich an Zufälle?«,
fragte der Theologe plötzlich und schaute seinem Gegenüber in die Augen.
Der Kriminalist war irritiert. »Zufälle?
Ist wohl Ihr Lieblingsthema. Sie meinen … Schicksal?«
»Egal, wie Sie’s nennen wollen. Ich glaube
dran. Es gibt Weichen, die das Schicksal stellt. Es hat uns zusammengebracht.
Nicht nur heute auf dem Bernardino – sondern schon damals, als ich vor dreieinhalb
Jahren Winni getroffen hab und er mir von dem Brummton erzählt hat. Damit hat
alles angefangen, Herr Kommissar. Gottes Wege sind manchmal verschlungen.«
Häberle nickte. »Und jetzt sind wir am
Ziel …?«
Sie bestellten bei der Bedienung eine
Flasche Chianti.
Über das Gesicht des Theologen huschte ein
Lächeln. »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob wir jemals an ein Ziel gelangen.
Der Mensch bleibt, solange er auf diesem Planeten ist, ein Suchender.«
Häberle wollte jetzt keine tiefschürfenden
Gespräche über Gott und die Welt führen. Er ließ gerade seinen Blick durch das
Lokal schweifen, als drüben die Eingangstür aufging. Ein Pärchen erschien dort
– ein älterer Herr, weißbärtig mit rundem Gesicht, und eine junge Frau, die
eine schwarze Lederhose und eine schwarze Lederjacke trug. Häberle kniff die
Augen zusammen. Irgendetwas durchzuckte ihn. Das Licht war schlecht im Raum,
aber diese eine Sekunde hatte gereicht. Eine Sekunde während der ihre Blicke
aufeinander trafen. Noch hatte der weißhaarige Mann die Tür nicht wieder hinter
sich ins Schloss gezogen, da bemerkte auch Brobeil, dass etwas geschehen sein
musste. Er drehte seinen Kopf ebenfalls zur Tür – und hatte keinen Zweifel.
Auch seine Blicke trafen sich mit denen des Weißhaarigen.
Sie starrten sich an. Eine Sekunde lang,
höchsten. Wie elektrisiert. Da reagierte der Weißhaarige. Er fasste seine junge
Begleiterin an der Schulter, zerrte sie einigermaßen unsanft ins Freie und ließ
die Tür ins Schloss fallen.
»Blühm«, entfuhr es Brobeil endlich. »Das
war Blühm.«
Damit hatte Häberle nicht gerechnet. Nein,
es war eher diese Frau gewesen, die ihm irgendwie bekannt erschienen war. Der
Theologe sprang auf, rannte quer durch das Lokal, gefolgt von Häberle und
kritisch beäugt von den anderen Gästen. Das Mädchen hinter der Theke blickte
ihnen verwundert nach. Sie erreichten die Tür, rissen sie auf und standen im
spärlichen Licht einer Straßenlampe. Die beiden Männer drehten sich nach allein
Seiten um, schauten die schmale Gasse hinauf und hinab – doch da war niemand.
»Bruno«, rief der Theologe, dass seine
Stimme durch den Ort schallte. »Bruno, wir suchen dich.«
Häberle kniff die Augen zusammen, um
schärfer sehen zu können. »Warum haut der ab?«, fragte er verwundert.
»Ist mir ein Rätsel. Er hat mich doch
erkannt – was soll das denn?«
»Und die Frau, haben Sie die Frau gesehen?«
Häberle ging die paar Schritte bis zu den Arkaden hinüber. Dort sah er zwar im
Licht der Lampen einige Personen – und draußen an der Uferstraße auch die
Silhouetten von Pärchen. Doch es würde jetzt keinen Sinn machen, hier hinter
wildfremden Menschen herzuhetzen und ein Aufsehen zu provozieren. Er war nicht
als Polizist hier, musste er sich immer wieder eingestehen.
»Die Frau«, sagte Brobeil achselzuckend,
als der Kriminalist wieder zurückkam, »ich hab mich nur auf ihn konzentriert.
Er hat einen Bart, haben Sie gesehen? Aber er war’s, zweifellos.«
»Irgendwo hab ich diese Frau schon gesehen
…« überlegte Häberle, während sie wieder in das Lokal zurückgingen.
Diese Nudelgerichte schmeckten vorzüglich. Der Kommissar und der
Theologe hatten sich angeregt über die Vorgeschichte dieses merkwürdigen Falles
unterhalten.
»Sie sollten wissen, dass nicht alles was
geschieht, in eine Schublade Ihres kriminalistischen
Weitere Kostenlose Bücher